Forschungsprojekt zu ihm in der Staatsgalerie Stuttgart abgeschlossen

Heinz Haber

Stuttgart (Weltexpresso) - Wenn man den Ausdruck FORSCHUNGSPROJEKT zu KIRCHNER hört, denkt man an kunstgeschichtliche Forschung zu seiner Malweise, seinen Zeichnungen, seiner Druckgraphik. Hier jedoch geht es um darum, lückenlos aufzuklären, woher der Bestand an Kirchner-Graphiken in der Staatsgalerie kommt, um auszuschließen, daß er durch Nazi-Enteignungen und Beschlagnahme erfolgte.

Erst sehr spät hat in der Bundesrepublik Deutschland das eingesetzt, was man Provenienzforschung nennt, nämlich die Aufklärunge der Herkunft von Kunstwerken. Spät eingesetzt, aber nun wird in immer mehr Institutionen geforscht. Die Staatsgalerie Stuttgart präsentiert ein weiteres Ergebnis ihrer Arbeit: Die Wissenschaftler untersuchten die Herkunft von 143 Graphiken des Künstlers Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), um einen möglichen verfolgungsbedingten Entzug auszuschließen.


Gemäß des Inventareintrags stammen die 143 Blätter von Ernst Ludwig Kirchner aus der »Sammlung Dr. Gervais, Zürich / Lyon« und sind seit 1957 im Besitz des Museums. Ziel des Forschungsvorhabens war es, den bisher unbekannten Sammler Dr. Gervais zu identifizieren, mögliche jüdische Vorbesitzer der Werke zu recherchieren und weitere Informationen zu ihrer Provenienz zu ermitteln.

Die Kunsthistorikerin Sandra-Kristin Diefenthaler M. A. arbeitete unter der Leitung von Dr. Anja Heuß, Provenienzforscherin an der Staatsgalerie, von August 2015 bis Juli 2016 an der Erforschung dieser speziellen Fragestellung innerhalb des Sammlungsbestandes des Museums. Der Bestand an Werken von Ernst Ludwig Kirchner umfasst mit 350 Gemälden, Skulpturen und Graphiken einen zentralen Kern im Bereich der Klassischen Moderne. Die untersuchten 143 Blätter nehmen dabei rund die Hälfte der Graphik im Sammlungsbestand ein.
   
Aufmerksam geworden durch einen Bericht von Roman Norbert Ketterer, Stuttgarter Kunsthändler und seit 1954 auch offizieller Nachlassverwalter Ernst Ludwig Kirchners, war man in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass die Werke der Sammlung Gervais möglicherweise aus jüdischen Sammlungen stammten.

Aufgrund umfassender Recherchen in in- und ausländischen Archiven und Museen lässt sich die sogenannte »Sammlung Gervais« mit einer ursprünglichen Größe von über 900 Werken benennen. Anhand der Inventarnummern konnten dieser Sammlung zugehörige Werke in anderen Museen wie der Staatlichen Graphischen Sammlung in München, dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, dem Ulmer Museum und weiteren Häusern in Deutschland identifiziert werden. Die Forschungsergebnisse ermöglichen daher auch anderen Museen in Deutschland weiterführende Erkenntnisse über ihren Sammlungsbestand.

Die Existenz des Sammlers Dr. Gervais ließ sich hingegen in keiner Weise belegen. Weder in Zürich noch in Lyon war Dr. Gervais nachweisbar. Aufgrund der historischen Umstände – Kirchners künstlerischer Nachlass galt nach dem Zweiten Weltkrieg als deutsches Feindvermögen und sollte in der Schweiz liquidiert werden – halten es die Experten der Staatsgalerie für wahrscheinlich, dass das Ehepaar Gervais eine Erfindung der Verkäufer war, um Kirchner-Werke aus dem Nachlass nach Deutschland verkaufen zu können.

Trotzdem die genauen Erwerbungsumstände der Sammlung nicht eindeutig geklärt werden können, schließt die Staatsgalerie aus, dass es sich bei den Blättern um verfolgungsbedingt entzogene Werke handelt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Sammlung aus dem Nachlass des Künstlers stammt.


Die Provenienzforschung in der Staatsgalerie Stuttgart

Seit Oktober 2009 untersucht Dr. Anja Heuß die Bestände an der Staatsgalerie Stuttgart auf ihre Provenienzen hin. Die Stelle ist seit 2015 durch das Land Baden-Württemberg verstetigt worden. Von August 2015 bis Juli 2016 unterstützte Sandra-Kristin Diefenthaler M. A. die Provenienzforschung am Museum. Ihre Projektstelle wurde vom Land Baden-Württemberg und dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gefördert.
Die Provenienzforschung beschäftigt sich mit der Herkunft der Kunstwerke und konzentriert sich dabei insbesondere auf die Zeit von 1933 bis 1945 und prüft, ob in dieser Zeit möglicherweise ein aus heutiger Sicht unrechtmäßiger Besitzwechsel stattgefunden hat.

In der Staatsgalerie Stuttgart sind davon ca. 1.500 Gemälde und 4.500 Grafiken betroffen. Davon wurden bisher 650 Kunstwerke überprüft (Stand Juli 2016), eingeschlossen die Werke aus der sogenannten »Sammlung Gervais«. Aufgrund der Forschungen restituierte die Staatsgalerie Stuttgart seit 1998 sieben Werke aus ihrem Besitz und die Freunde der Staatsgalerie zwei Werke aus deren Eigentum an die rechtmäßigen Erben.


Foto:
Ernst Ludwig Kirchner, Liegender weiblicher Akt am Fehmarnstrand, 1912, Bleistift und Aquarell auf weißem Papier, 46 x 59 cm, Staatsgalerie Stuttgart


Info:

Die dabei gewonnenen Erkenntnisse schließen auch Lücken in der Provenienzforschung an weiteren Museen in Deutschland.
Das Forschungsprojekt wurde vom Land Baden-Württemberg und der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste gefördert.