Zur Ausstellung GEOGRAPHIE DER ZEIT der Künstlerin im Museum für Moderne Kunst Frankfurt MMK 1, Teil 1, Die Veranstaltungen des Gastlandes Flandern & die Niederlande auf der Frankfurter Buchmesse,  7/10


Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wenn Sie derzeit durch Frankfurt schlendern, sehen Sie an den Litfaßsäulen oder unten an den U-Bahn-Wänden ein junges Mädchen vor sich, blau-weiß gewandet, den Blick sittsam gesenkt, das eine Stille und das gewisse Etwas von gestern atmet, aber gleichzeitig ein junges Mädchen von heute ist.


Und so ist es auch, denn es ist ein Modell, das der niederländischen Künstlerin Fiona Tan als Verkörperung von NELLIE dient. Nellie nun wiederum ist die illegitime Tochter von Rembrandt van Rijn (1606-1669), mit deren Mutter Hendrickje Stoffels er nach dem Tod seiner Frau Saskia (herrliches Bildnis in der Gemäldegalerie Alter Meister in Kassel) als Haushälterin und neue Partnerin zusammenlebte. Das Überraschende ist nun, daß man zwar von dem Sohn Titus und der verheerenden Wirkung seines frühen Todes auf den Maler wußte, aber von den insgesamt vier Töchter (illegitim?) keine Kenntnis hat. Einfach, weil Mädchen damals nicht wichtig waren, denkt man sich. Nellie aber blieb bis zum Tode des Vaters bei ihm. Da war sie fünfzehn Jahre.

Wir sehen nun im abgedunkelten Raum im Parterre des Holleinbaus, zu dem man die paar Stufen hinaufsteigen muß, ein Bild an der Wand, ja, es sieht wie ein Bild aus, denn von Größe und Beschaffenheit her erinnert es an die Porträts der Schönen des Goldenen Zeitalters, aber das denkt man nur eine Sekunde. Es passiert nämlich mindestens Zweierlei. Während man selbst noch staunt, wie diese Dia-Projektion einem ein Gemälde suggeriert, man im Kopf verarbeitet, daß es sich um die Rembrandttochter handelt, fühlt man gleichzeitig: „Nein, nicht Rembrandt“, denn man sieht vor sich ein authentisches Mädchen von Vermeer. Jan Vermeer (1632-1675), etwas später als Rembrandt, hat eine völlig andere Palette. Seine Bilder sind aus der Zeit gehoben – aha, der Titel der gesamten Ausstellung, von der dies nur eine, eine kleine Station ist, heißt ja GEOGRAPHIE DER ZEIT – sie zeigen immer wieder Mädchen und Frauen mit geneigten Köpfen, die im Licht stehen, oder deren Gesicht aus dem Dunklen aufleuchtet, es sind seine lichtumflossenen Inszenierungen, die sein Pinsel meisterhaft auf die Leinwand zaubert.

Aber längst, während wir noch Sinnieren, schauen unsere Augen, wie sich das Bild zu bewegen beginnt. Es ist gar kein Dia, es ist ein Video, denn jetzt bewegt sich das junge Ding, streckt sich, räkelt sich, guckt aus dem Fenster und – auf einmal bleibt das Bild wieder stehen, wieder kommt mit Macht der Eindruck von Vermeer – was ja nur deshalb einem besonders anmutet, weil es die Tochter von Rembrandt ist! - und plötzlich hört man Töne im Hintergrund, sanfte Musik. Und während man das nun erst einmal verarbeitet, bewegt sich die Person längst wieder und es wird höchste Zeit, zu erzählen, was daran das Besondere ist.

Aufgenommen wurde das Video in dem Haus, in dem einst die Niederländische Ostindien-Kompanie hauste, die weltumspannende Handelsgesellschaft mit dem Hauptquartier in Batavia, wie damals die Stadt hieß, die wir heute als indonesische Hauptstadt Jakarte auf Java kennen. Die Wände des imposanten großen Raums sind mit einer Tapete bespannt, die in Blau-Weiß erst mal an Delft denken läßt, aber ganz andere Motive hat. Da turnen Affen, da schlingen sich Pflanzen, die eine sieht aus wie eine Agave und der Vogel mit den langen Schwanzfedern, das ist, ja das ist, wie heißt er noch mal, nein, nein, nicht der Pfau, sondern der auf den langen Beinen, aber der Name fällt einem genauso wenig ein wie andere Tiere, doch, hier, es ist der stolze Strauß, jetzt fällt es einem ein und man kann ihn identifizieren und auch die Papageien und da hinten einen Reiter auf dem Roß, der – seltsam, seltsam – eine Kopfbedeckung wie ein Chinese trägt. Mal ist der Boden – alles in Blau-Weiß! - seltsam karg, dann wieder strotzende Natur und Baumstämme sind lianenumschlungen.

Und dieses blau-weiße Tapetenmuster wiederholt sich auf dem bauschigen Kleid des Mädchens, das, wie ein Dirndl geschnitten, vorne geschnürrt, eine weiße duftige Bluse darunter hat, mit großzügigen Ärmelvolants – auf der rechten Brust thront ein Affe, das ist ganz deutlich zu sehen, aber ansonsten geht das Muster auch beim bauschigen Rock ineinander über. Die Haare sind ordentlich hochgesteckt und von weißer Organza bedeckt.

Doch war das ja nur eine Einstellung, die uns nur wegen der Dauer und Beleuchtung so gefangen nahm. Denn längst gibt es andere Sensationen. Das Mädchen trägt jetzt die langen Haare offen und sitzt in ihrem gemusterten Kleid vor den Paneelen der Mustertapete oder sie schwebt hochaufgerichtet an dieser vorbei. Aber dann gibt es eine Einstellung, da stockt einem der Atem. Keine Ahnung, ob uns die Künstlerin foppen will, aber für Kenner liegen mit dem jungen Mädchen, das völlig auf dem Rücken ausgestreckt seine Hände gefaltet hat und sich in ihrem Musterkleid auf einer Chaiselongue räckelt, dessen Polster just das selbe blau-weiße Muster von Tapete und Kleid wiedergeben (!), -  zwei monumentale Gemälde der Kunstgeschichte mit auf dieser Liege. Das ist zum einen Holbeins TOTER CHRISTUS aus Basel (Der Leichnam Christi im Grabe genannt) und das ist noch stärker, weil weiblich und zeitlich näher, OPHELIA von John Everett Millais, 1851/52 gemalt und in der Tate Britain als Prunkstück der viktorianischen Malerei zu bewundern. Aber gottseidank bewegt Nellie jetzt ihre Finger, zieht an den Schnüren des Oberteils, wir sind nicht mehr abgelenkt und in der Kunstgeschichte unterwegs, sondern wieder bei Nellie, deren neuerliche Bewegungen den Eindruck von Müdigkeit und Traurigsein nicht auslöschen können.

Inzwischen ist  in diesem Video, das als Bild an der Wand daherkommt, längst aus dem sittsamen, sich tot stellendem Mädchen, eine wilde Träumerin geworden, die im Schlaf von Alpträumen geschüttelt wird. Aus gutem Grund. Es wird höchste Zeit, außer den Assoziationen etwas über die wirkliche Nellie zu sagen, Cornelia, die Tochter Rembrandts, die hier vom Modell Tessel Schole  nachempfunden, gespielt wird. Diese Cornelia heiratete 1670, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, einen holländischen Maler, mit dem sie 1671 in die niederländische Kolonie Batavia auswanderte, Kinder bekam, aber dort schon 1689 starb (im Kindbett heißt es und/oder Malaria) und nie mehr nach Hause zurückkam.

Ganz im Gegensatz zu Fiona Tan. Und jetzt wird es spannend. Fiona Tan ist nämlich in Indonesien geboren und ihr Weg ging von dort nach Amsterdam. Das ist aber längst nicht alles. Nicht nur, daß sie gerade nach Los Angeles zog, wichtiger ist, daß ihr Vater ein Chinese, aha, daher der Name Tan, ist und ihre Mutter aus Australien stammt, wo sie auch aufwuchs. Was das mit weiteren Werken in der Ausstellung zu tun hat, die immer wieder um Identität und das Versichern, wer man ist und woher man kommt, auch wohin man will, zu tun hat, sollen die nächsten Ausstellungssplitter zeigen. Fortsetzung folgt.

Foto: Fiona Tan, Nellie (c) MMK 1

Info:
Ausstellung bis 18. Januar 2017


Katalog:

Fiona Tan, Geography of Time, Koenig Books, London 2015

Dieser Katalog ist ein kleines Schmuckstück, leider auf Englisch, aber doch im hinteren Teil mit Übersetzungen auf Deutsch, Norwegisch und Iwrit, den Ausstellungsstationen gemäß sowie mit eindrucksvollen Fotos von der Kunst der Künstlerin und von ihr selbst.