Das Projekt GLASPALÄSTE schafft mobile Mikroräume für Experimente zwischen Kunst und Wissenschaft im Stadtraum
Roman Herzig
Lutherstadt Wittenberg/Wien (Weltexpresso) - Kein Luther-Playmobil, kein Luther-Bier und schon gar keine Luther-Wurst – stattdessen können sich die BesucherInnen des österreichischen Projekts GLASPALÄSTE auf eine spannende, künstlerisch-soziologische Auseinandersetzung zum Leitthema „Globalisierung“ freuen.
GLASPALÄSTE ist eine transkulturelle Plattform zwischen Kunst und Wissenschaft im Stadtraum. Sie ist das Ergebnis einer Ausschreibung im Rahmen der Wittenberger „Weltausstellung_Reformation“ und versteht sich als kritisches Programm zum herkömmlichen Jubiläumsbetrieb.
Der Titel GLASPALÄSTE ist ein Verweis auf das Großereignis Weltausstellung, ein Großereignis, das auch das Reformationsjubiläum sein soll/will; doch GLASPALÄSTE stellt nicht die technischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Errungenschaften einzelner Nationen in den Fokus. Vielmehr entstehen die Glaspaläste aus zwölf Mikroräumen: Zwölf jeweils 1,8 x 2,5 x 1,9 Meter große, mobile, gläserne Kuben beziehen zwischen dem 19. Mai und dem 10. September nach und nach in der Wittenberger Innenstadt zwischen Neuem Rathaus und der Exerzierhalle Position.
In den knapp 16 Wochen Laufzeit füllen GastkünstlerInnen und -wissenschaftlerInnen aus sechs Ländern im Austausch mit den WittenbergerInnen und BesucherInnen die noch leeren Kuben mit Experimenten zwischen Kunst und Wissenschaft rund um den Themenbereich Globalisierung. Auf diese Weise entstehen aus den Kuben Glaspaläste in Form von Denk-, Produktions- und Handlungsräumen. Sie erweitern den geografischen Radius der Hauptausstellung, in dem sie immer wieder vom Zentrum der Stadt in die Peripherie ausfahren und mit den BewohnerInnen dort interagieren.
Das Projekt wurde gemeinsam von Wiener Soziologie-StudentInnen mit der Bildenden Künstlerin Michaela Rotsch und der Soziologin Irmtraud Voglmayr entwickelt. Prototyp der GLASPALÄSTE ist der SYNTOPIAN VAGABOND, ein mobiler Glaskubus, der von Michaela Rotsch als künstlerisches Tool seit 2012 in verschiedenen Ländern und Stadträumen eingesetzt wird, um Orte zu verbinden. Syn- und -topos bedeutet die Verbindung von Orten; das können auch Orte im Gehirn oder verschiedene Disziplinen sein. Er tritt immer in Verbindung mit Institutionen oder ganzen Städten auf, die sich im Ausnahmezustand befinden. Zuletzt war der SYNTOPIAN VAGABOND in Bagdad unterwegs.
Unter der streitbaren Fragestellung „Wieso gibt es Grenzen?“ konzentrieren sich die Aktionen in den Glaspalästen auf drei Themenbereiche:
1. Buchdruck und Medien: Hier geht es um Informationskanäle und Sichtbarwerdung von Wissen. Welches Wissen? Wo herrscht mediale Begrenzung? Gibt es einen grenzenlosen Zugang zu Wissen und einen hierarchielosen Austausch von Wissen?
2. Thesenanschlag: Wo liegen Grenzen der (Selbst-)Kritik und was kann eine Kritik der Globalisierung leisten?
3. Ablasshandel: Religion und Ökonomie stehen in einer Wechselbeziehung. Haben religiöse Strukturen in der Moderne nur eine andere Form angenommen? Gibt es heute nicht eine Art von neuzeitlichem Ablasshandel und einen nach wie vor verdeckt existierenden Kolonialismus?
Bei der Auswahl der Themen, GastkünstlerInnen und -wissenschaftlerInnen hat das Wiener Team gängige wissenschaftliche Wege verlassen und setzt stattdessen auf das künstlerische Prinzip des „Zusammenbringens von Unerwartetem“. Es ging bei der Auswahl darum, mindestens zwölf verschiedene Tendenzen religiösen Glaubens und dadurch Pluralität, aber auch die Konflikte und Verstrickungen in der Welt zusammenzubringen. Das Ziel ist dabei, das Lebendige und damit auch das Unübersichtliche und Ergebnisoffene von Globalisierungsprozessen abzubilden. „Wir wollen unerwartete Kombinationen in den Palastgestaltungen“ sagen die Initiatoren.
Die zwölf Glaspaläste
Im BAMIYAN_AMRITSAR_PALAST verbindet der Künstler Bert Praxenthaler Menschen, die dem Sikhismus in Indien angehören, mit schiitisch-buddhistischen Ausformulierungen aus Afghanistan. (02. Juni 16.00 Uhr)
Im WITTENBERG_PALAST entführt ein Team der Wittenberger Kulturbotschaft die BesucherInnen in die mythische Welt des Alten Testaments und konfrontiert sie gleichzeitig mit der judenfeindlichen Haltung Luthers.(23. Juni 16.00 Uhr)
Im AFRICAN DIASPORA_PALAST widmet sich die Wissenschaftlerin Natasha A. Kelly dem ersten schwarzen Philosophen Europas, Anton Wilhelm Amo, der an der Universität Halle (heute Universität Halle-Wittenberg) 1729 seine Disputation mit dem Titel De jure maurorum in Europa (dt.: Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa) hielt. (14. Juli 16.00 Uhr)
Im TEL AVIV_GLASPALAST thematisiert die Soziologin Marina Klimchuk das verarmte und marginalisierte Viertel Neve Shaanan im sonst so hippen Tel Aviv. Hier fristen Asylsuchende aus Eritrea oder dem Sudan, ArbeitsmigrantInnen aus Westafrika, Asien oder Osteuropa ihr Dasein und bedrohen, so behaupten viele israelische Medien und PolitikerInnen, die „jüdische Identität“. (07. Juli 16.00 Uhr)
Im BAGHDAD_PALAST will der Künstler Kadir Fadhel über die Grenzen (nicht nur) seiner Heimatstadt sprechen: Grenzen der Religion, Nationalität, Kultur, Politik, des Verkehrs, der Bildung und die Grenze der Sippen. (16. Juni 16.00 Uhr)
Im MUMBAI_PALAST erzeugen Jyotika Purwar und Martina Spies, beide von der Architektur kommend, eine Verbindung zwischen Mumbai und Wittenberg mit dem Saree als vergeschlechtlichte soziokulturelle Identität. (30. Juni 16.00 Uhr)
Im EPIDEMIOLOGY_PALAST untersucht der Systembiologe Manfred Goedel die Ausbreitungsstruktur der Reformation unter dem Aspekt der Epidemie. (29. Juli 16.00 Uhr)
Im WIEN_PALAST nehmen Studierende der Soziologie unter dem Thema „Grenzen des Geschmacks“ die global-lokale Ökonomie am Beispiel dreier Wittenberger Lebensmittel-Produkte unter die Lupe. (20. Mai 11.00 Uhr)
Im ISTANBUL-OTTOBRUNN_PALAST wird von deutschen SchülerInnen der Versuch unternommen, im Austausch mit einem griechisch-orthodoxen Gymnasium in Istanbul über die Grenzen zu schauen. (24. Juni 16.00 Uhr)
Der REFUGIUM_PALAST wird „eingemauert“, ist uneinsehbar und hat einen unverrückbaren Standort. (26. Mai 16.00 Uhr)
Ein elfter Kubus fungiert als Gastkubus und wird von den Johannitern bespielt.
Den Projektüberblick bietet der PROGRAMM_PALAST, an dem das GLASPALÄSTE_Journal am 19. Mai öffentlich angeschlagen wurde. Hier schreiben u. a. die Studierenden Judith Fischer, Martin Zenker und Joschka Köck (MA) über Grenzen der Globalisierung, zeitgenössische Formen des Ablasshandels und Kolonialisierungstendenzen.
Das Projekt GLASPALÄSTE ist ein Angebot von PALAST_GestalterInnen für BesucherInnen, sich aktiv am Thema „Globalisierung“ zu beteiligen, die eigenen (Vor)Urteile auf den Prüfstand zu stellen, die eigenen Grenzen zu suchen und vielleicht zu verschieben.
Foto: (c) Veranstalter
Info:
Wo: GLASPALÄSTE: 19. Mai bis 10. September 2017, auf dem Platz zwischen Neuem Rathaus und Exerzierhalle. Lutherstraße 56, 06886 Lutherstadt Wittenberg
Öffnungszeiten:
23. Juni bis 6. August: Mittwoch/Donnerstag von 14.30 bis 17.30 Uhr, Freitag/Samstag: 12.00 bis 18.00 Uhr, Sonntag 12.00 bis 17.00 Uhr
19. und 20. August: 12.00 bis 18.00 Uhr