Thorsten Latzel
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ich gehöre nicht dazu. Habe ich eigentlich noch nie. Hat nur zum Glück bis jetzt noch niemand gemerkt. Die Eltern: Flüchtlinge. Mein Vater – ein Katholik aus Schlesien im evangelischen Wittgenstein. Für die gab es damals einen eigenen Schulhof. Meine Mutter – das einzige Mädchen unter sieben Brüdern, die damals ohne irgendetwas aus Danzig kamen. So was steckt tief in den Genen.
Wir waren dann die Ersten, die auf ein Gymnasium gegangen sind. Arbeiterkinder – Willy Brandt sei Dank. „Also, wir können euch da nichts helfen. Wenn’s nicht klappt, müsst ihr eben abgehen.“ Das Gleiche im Studium. Zur Sicherheit versucht man, die Erwartungen doppelt zu erfüllen. Als Vikar kam ich aus einer anderen Landeskirche. „Beutehesse.“ In der Seelsorgeausbildung erzählte eine Ausbilderin von einem Mann, der sich in einer Gruppe immer so vorstellte: „Guten Tag, ich heiße N.N. Und ich stinke nicht.“ Eine skurrile Szene, die mir aber irgendwie in Erinnerung geblieben ist. Kann man Fremdheit, Anderssein eigentlich riechen?
„Ich gehöre nicht dazu.“ Der Satz klingt seltsam aus dem Mund eines weißen, männlichen, mittelalten, biodeutschen Akademikers. Viele Menschen erfahren dies tagtäglich noch einmal in ganz anderer Form. Frauen in Männerberufen oder in Aufsichtsräten: „Sehr geehrte Dame, sehr geehrte Herren.“ Junge Erwachsene, die mit ihren Eltern aus Russland eingewandert sind: Dort waren sie Deutsche. Hier sind sie Russen. Menschen mit einer dunkleren Haut oder einem fremd klingenden Namen. „Und woher stammst du jetzt eigentlich?“ Muslime, Homosexuelle, Behinderte, Arbeitslose, Dicke, Alte, Ostdeutsche. Das Gefühl, fremd zu sein, nicht so richtig dazuzugehören, ist viel verbreiteter, als man denkt. Wer sind eigentlich diejenigen, die am Ende noch dazugehören? Der „heilige Rest“?
„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau. Denn ihr seid allesamt eins in Christus.“ (Gal 3,28) Das klingt immer so schön. Inbegriff der frohen Botschaft, die keine Grenzen kennt. Aber was heißt das eigentlich? Christus war Jude, Freier und Mann. Und Paulus, der das geschrieben hat, auch. Da lässt sich so etwas leichter sagen. Vielleicht zitieren wir den Satz gern in der Kirche, weil es die Grenzziehungen früher Tage sind. Der Anteil von Griechen und Sklaven ist bei uns ja relativ gering. Spannender klingt das schon, wenn man hier andere nennt: „Hier ist nicht Homo noch Hetero, hier ist nicht Wutbürger noch Gutmensch, hier ist nicht Corona-Skeptiker noch Lockdown-Befürworter ...“ So kommt Musik in die Aufzählung. Denn es stellt sich ja die Frage, was uns als Verschiedene eigentlich zusammenhält, was das „Wir“ ausmacht – und was Christus damit zu tun hat.
Es gibt ein falsches „Wir“. Klassisch bekannt aus dem Krankenhaus oder aus politischen wie frommen Sonntagsreden: „Wie geht es uns denn heute?“ „Und ich spreche nicht zunächst von mir selbst, wenn ich sage, wir müssen alle den Gürtel enger schnallen.“ „Fühlen wir uns nicht alle manchmal schrecklich verloren?“ Dieses „Wir“ ist unklar, schwammig, vereinnahmend. Es deckt Konflikte zu. Und es hat oft mit einer repressiven Toleranz zu tun. Weil es keine offene Begegnung eines Ichs mit einem Du ist.
Mir fällt es wirklich schwer, viele Formen des Populismus irgendwie innerlich nachzuvollziehen: Wie kann jemand allen Ernstes etwa Trump, Orbán oder die AfD wählen? Selbstkritisch muss ich aber sagen, dass es in dem weltoffenen, liberalen „Mainstream“ – zu dem wir als Akademie gehören – blinde Flecken gibt. Dass sich viele Menschen in ihm nicht wiederfinden: „Do you hear me now?“ „Man wird ja wohl noch einmal sagen dürfen.“
Ja, „wir“ müssen als Gesellschaft wieder lernen, offen mit Andersdenkenden zu streiten. Das Problem des gegenwärtigen Populismus ist aber gerade, dass er genau dieses verhindert. Er beansprucht zu definieren, wer oder was wirklich amerikanisch, ungarisch oder deutsch ist: „Wir – und nur wir – sind das Volk!“ Womit wir beim gefährdeten „Wir“ sind. Diese Haltung zerstört die Grundlagen demokratischer Streitkultur: Lügen werden zu alternativen Fakten, kritischer Qualitätsjournalismus wird dagegen zur Lügenpresse, Justiz und Wissenschaft werden diskreditiert, wenn die Ergebnisse nicht passen. Wie kann man da noch streiten? „Man wird ja wohl noch einmal sagen dürfen.“ Ja, das darf ich. Selbst wenn es der größte Unsinn ist oder einfach nur der Mehrheit nicht gefällt. Das gehört zu meinen urdemokratischen Freiheitsrechten. Aber das gleiche Recht haben auch die anderen. Und ich habe eben keinen Anspruch, dass mir nicht widersprochen wird. Und meine Meinungsfreiheit endet, wo ich andere einzelne Menschen oder Gruppen diffamiere – oder die Streitkultur bewusst zerstöre.
Bleibt die Frage, was der christliche Glaube mit dem gefährdeten „Wir“ zu tun hat. Ich glaube, dass es in der ganzen Geschichte von Jesus Christus darum geht – die Grundlegung und Entdeckung eines neuen „Wir“:
Am Anfang seines Weges lässt er sich taufen. Steigt hinab in den Jordan, in den gleichen Sündenpfuhl mit allen anderen. Ganz anders als Johannes, der Täufer, der das überhaupt nicht versteht. Der lebt als Asket von Heuschrecken und wildem Honig – und in radikaler Distanz zur verkommenen Welt. In der Wüste widersteht Jesus dreimal der Versuchung, dass er allein ganz für sich der eine und einzige Gottessohn ist. „Bist du Gottes Sohn, so mach Steine zu Brot, herrsche allein über die Welt, spring von den Zinnen.“ Auffälligerweise kommen in den Einflüsterungen des Teufels die anderen niemals vor.
Er sammelt Menschen um sich, die für einen frommen Wanderrabbiner seiner Zeit höchst suspekt und anrüchig sein sollten: Fischer, einfache Leute, selbst korrupte Zöllner – und viele Frauen. „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ (Lk 15,2) Für seine frommen Gegner ist er „ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder“ (Lk 7,34). Konsequent übertritt er alle Gebote, die Menschen trennen und Leben behindern: Er heilt am Sabbat, verteidigt eine Ehebrecherin, lernt von der kanaanäischen Frau, dass auch Heiden wie wir ihn brauchen. Und er erzählt einfache, eindrückliche Geschichten, die genau davon handeln: von verlorenen Schafen, Groschen und Söhnen. Von Ersten, die die Letzten sein werden. Von einem Weltgericht, das alle Maßstäbe auf den Kopf stellt.
Am Ende seines Weges wird er noch ein letztes Mal gemeinsam essen – mit seinen Freunden, von denen er weiß, dass sie ihn alle verlassen, verleugnen, verraten werden. Er wird sich von Judas küssen und von den Römern hinrichten lassen. Festgenagelt in der Gemeinschaft der Schächer. Solidarisch mit jedem, selbst seinen Feinden. Bis zum letzten Moment, als er in seiner radikalen Liebe zu den Menschen nicht nur sein Leben, sondern auch Gott verliert: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) Und dann, erst dann erfüllt sich, womit der Teufel ihn verlocken wollte: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ (Mk 15,39) Und es entspricht der Geschichte seines Lebens, dass die Pointe des Evangeliums von einem römischen Hauptmann ausgesprochen wird. Dem Feind unter seinem Kreuz.
Deshalb ist für mich als Christ nicht denkbar, Menschen oder Gruppen auszugrenzen: weil Gott für uns nicht ohne die Menschen zu haben ist. „Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20) Es gibt das „Wir“ mit Christus nicht ohne das „Wir“ der anderen. Bis hin zum Preis der eigenen religiösen Rechtgläubigkeit. Das ist das Wunder von Pfingsten: „Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.“ (Apg 2,9–11)
Und zu der Gemeinschaft kann dann auch ich wirklich dazugehören. Selbst als „Beutehesse“.
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Info:
Dr. Thorsten Latzel ist Direktor, Pfarrer und Studienleiter für Theologie & Kirche
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