kurtrecnerBrief an eine krebskranke Freundin

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Liebe Hanna,  vielen Dank für das anrührende Herbst-Gedicht von Mascha Kaléko. Deine Mail erinnert mich daran, dass ich Dir noch Antwort schulde auf die Frage, ob der Antisemitismus tatsächlich zugenommen hat. Generell wahrscheinlich nicht; zugenommen haben die gewalttätigen Übergriffe. Sie hängen, was leicht übersehen wird, zum Teil auch mit der allgemeinen Verrohung zusammen, die durch die Verharmlosung von Gewalt in vermeintlich harmlosen Fernseh-Comics salonfähig geworden ist.

Ja, Wolfgang Benz hat Recht: Es gibt keinen neuen Antisemitismus, es ist immer noch der alte. Fritz Bauer hat es 1963 so formuliert: "Der beherrschende Einfluss der Juden im Geschäfts- und Kulturleben ist gebrochen. Aber der Hass ist noch der gleiche". Antisemitismus gibt es überall. Aber nur die Deutschen haben Fabriken zum Abschlachten von Juden gebaut. Der Prozentsatz der in Deutschland lebenden Juden war in der Weimarer Zeit verschwindend gering, trotzdem fiel der von den Nazis geschürte Hass auf fruchtbaren Boden. Sie bedienten ein  Ressentiment, an dem beide christliche Kirchen nicht unschuldig sind. Dabei waren es vornehmlich Juden, die das europäische Geistesleben, die Wissenschaft und auch die Wirtschaft entscheidend beeinflusst haben.

Dass die Reichen sich des Geschäftssinns der Juden seit jeher gern bedienten, die Fürsten allemal, hat Veit Harlan in seinem Film "Jud Süß" auf abscheuliche Weise für die Nazipropaganda aufbereitet. Ich habe den Film als 16jähriger Schüler gesehen und hatte große Mühe damit. Hätte ich nicht einen durch und durch antifaschistischen Vater gehabt, wäre ich der raffinierten Hetze wohl auch erlegen. Viele nehmen den Judenhass gewissermaßen mit der Muttermilch in sich auf. Bedauerlichweise sind gerade sozial benachteiligte Menschen für diesen Hass anfällig. Das gilt auch für die Fremdenfeindlichkeit.

Deine Vermutung, ich sei der anonyme Verfasser der Auschwitz-Kinderlieder, ehrt mich, aber da irrst Du Dich. Ich kenne die im Bremer Donat-Verlag erschienenen  Kinderlieder sehr gut. Sie gehen ebenso unter die Haut wie Paul Celans „Todesfuge“. Ein Studienfreund meines Sohnes hat sie vertont, und die Uraufführung in der Oberen Halle des Rathauses ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Helmut Donat hat übrigens vor Jahren mein Büchlein "Die Verharmloser" herausgebracht, das ich ursprünglich für den  C.H. Beck Verlag in München geschrieben hatte. Dessen Lektor bekam jedoch kalte Füße, weil ich den Hausautor Theodor Maunz als heimlichen Verbündeten des Neonazis Gerhard Frey bloßgestellt habe. Den Namen des Verfassers der Auschwitz-Kinderlieder habe ich Helmut Donat nicht entlocken können.

Dass Du so tapfer mit Deiner Krebskrankheit umgehst, nötigt mir immer wieder Bewunderung ab. Aber ist tapfer das passende Wort? Wahrscheinlich hat der Krieg mein Denken verbogen, dass sich mir dieser Vergleich aufdrängt. Es liegt wohl eher an den Genen, wie ein Mensch mit einer Krankheit umgeht. Dass Du Dich weiterhin für das Leben "da draußen" interessierst, ist hauptsächlich eine Sache des Kopfes und des Lebensmutes. Ob ich das zuwege brächte, weiß ich nicht. Ich gerate schnell in Panik.

Dass Wolfgang Benz Ressentiments als Ursache der Ausgrenzung von Minderheiten ausgemacht hat, trifft die Sache nicht ganz. Die Wurzeln reichen tiefer. Spielt nicht eher die Angst des Menschen eine Rolle, von einem Stärkeren "untergebuttert" zu werden?  Das kann jemand sein, der von seiner Physis her stärker ist, es kann aber auch jemand sein, der klüger ist. Das lärmende Auftreten der Nazis und ihre Wichtigtuerei hatten auch etwas mit Neid und Missgunst zu tun. Trumps Verhalten wächst auf demselben Mist. Dass er jetzt seinen Verteidigungsminister entlassen hat, muss  Dich nicht erschrecken. So hat er ja die ganzen Jahre über regiert. Mich beunruhigt etwas anderes: Dass seine Anhänger ihm das nachsehen.

Auch wenn alle vermuten, Trump werde mit seinen Klagen nicht durchkommen, werde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass das Oberste Gericht ihm am Ende Recht geben könnte. Die beiden Großmächte Russland und China halten sich mit Glückwünschen an Joe Biden wohl nicht von ungefähr zurück. In der Tat - wie  soll man sich die Zeremonie zur Amtseinführung des neuen Präsidenten auf den Stufen zum Kapitol am 20. Januar vorstellen, wenn der alte sich weigert, den Regierungssitz zu verlassen?  Wird man Trump mit Gewalt aus dem Weißen Haus entfernen.  Vielleicht in einem Krankenwagen?

Seien wir froh, dass in den zurückliegenden vier Jahren nichts Schlimmeres passiert, als die Spaltung der USA in zwei verfeindete Lager. Diese Spaltung gab es seit jeher und es wird sie weiterhin geben. Vielleicht wird man künftig nicht mit Hass im Herzen miteinander umgehen, sondern so ganz normal, wie es sich für ein zivilisiertes Volk mit einer demokratischen Verfassung  gebührt. Das wäre schon viel wert. Und wenn dann tatsächlich auch noch ein Impfstoff gegen das Corona-Virus auf den Markt kommt,  können wir uns alle gegenseitig beglückwünschen.

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Der Verfasser beim Briefschreiben
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