ÜBER DIE BRÜCKE IN DOLLDORF ... geht’s auch nach Afrika - Teil 2

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Während der vergangenen Nacht sind in den meisten Ländern Europas die Uhren um eine Stunde zurückgestellt worden – Winterzeit. Ich muss im Haus sieben Uhren justieren, einschließlich jener im Auto und der auf dem Handy. PC und Laptop haben das in der Nacht selber besorgt. Sie teilten mir das heute früh mit der Bitte um Überpüfung mit.„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“. Das hatte die RBO-Praktikantin Bea Schallenberg bei ihrem Aufenthalt in Zimbabwe notiert. ...

Im Vergleich zu Zimbabwe hinke ich im Haus an der Dolldorfer Brücke jetzt eine Stunde hinterher. Da sich die biologische Uhr aber nicht umgestellt hat, bin ich an diesem Sonntagmorgen eine Stunde zu früh aufgestanden. Das bringt mich auf die Idee, einen Kurzausflug zu unternehmen, dessen Ziel zwar nur fünfzehn Minuten Autofahrt nördlich der Brücke liegt, das aber – um es mit Leben erfüllt vorzufinden – eben nur an einem Sonntagvormittag besucht werden kann.

Die Stiftskirche zu Bücken, „St. Matermiani et St. Nicolai“, wurde um das Jahr 882 durch Erzbischof Rimbert von Bremen gegründet. Den Kirchengründungen seines Vorgängers Ansgar fügte er damit ein weiteres geistliches Zentrum hinzu, das neben der Missionierung und der Verwaltung der Diözese möglicherweise auch als Fluchtstätte vor den Einfällen der Normannen diente.
Immerhin wurde über einhundert Jahre nach der Stiftsgründung der Schatz der Bremer Kirche vor normannischen Raubzügen in das etwa 50 Kilometer weseraufwärts gelegene Bücken in Sicherheit gebracht. Der erste Bau war nur eine Holzkirche, die erst um 1050 durch einen Steinbau ersetzt wurde. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entstand in mehreren Bauabschnitten eine eingewölbte dreischiffige Basilika mit Querhauskonchen. Der spätere Doppelturmbau litt durch die Auflösung des Stifts und seiner Güter als Folge der Reformation, einer der Türme wurde sogar abgerissen.
Der Architekt Adelbert Hotzen, der vor anderthalb Jahrhunderten zeitweise in Bücken wohnte, ergriff die Initiative zu einer umfangreichen Innen- und Außenrenovierung. Zwischen 1863 und 1868 erhielt der Kirchenbau seine heutige Gestalt.

Ich machte hier schon einmal Station, um der Tochter nach einem Dolldorf-Besuch und auf ihrem Rückweg zum Architekten-Job in London zu zeigen, was auf dem flachen Lande einem Künstler eingefallen ist, als von September 1997 bis Oktober 1998 die verrottete Kupferbedachung der beiden Kirchtürme zu erneuern war.

„Pablo“ Holger Hirndorf wurde 1963 im Kirchspiel geboren. Er studierte Kunstpädagogik an der Uni Hannover, dann Malerei, 1992 schloss er als Meisterschüler ab. Über seinen Auftrag schreibt er: „Seitens des Kirchenvorstandes wurde an mich der Gedanke herangetragen, die 15 Kreuzwegstationen, den Weg Jesu von der Verurteilung bis zum Kreuz und seine Auferstehung, auf Altkupfer vom Kirchenturm darzustellen. ...“

Und Jürgen Claus von der Universität Hannover notiert im selben (in der Kirche erhältlichen) Pamphlet: „Gewaltsam traktierte, von der Zeit dunkel patinierte Kupferbleche, welche ehemals die Kirchtürme der alten Stiftskirche zu Bücken zierten, präsentieren sich unserem Blick mit Verformungen der Oberfläche und mit Schleif- und Schlagverletzungen, die beim Aushebeln der Platten aus der Turmbekleidung entstanden sind.
Witterungsspuren und Spuren der Zerstörung suggerieren rohe Kraft und zeigen sich uns unverhohlen dokumentarisch. Das ist die eine Seite der assoziationsreichen Bildtafeln des Künstlers Holger Hirndorf. Diese Tafeln werden in ungeahnt eindringlicher Weise zur Metapher für menschliches Leiden und damit auch für den Leidensweg Christi. ... Holger Hirndorf entwickelt parallel zu den Zufallsspuren einen faszinierenden Kosmos aus Fantasie- und Realformen. Grafische Spuren schwirren und strudeln wie Gestirne durch einen imaginären Äther, in welchem schemenhaft irdisch Szenerien erblühen. Ein Schöpfungsakt von bildträchtiger Kraft. Zerstörung wird zur Krönung. ...“
Das Gesamtwerk aus 15 Kupfertafeln wird am Ende etwa 35.000 Euro kosten. „Der Kreuzweg wird jeweils dann um eine weitere Station wachsen wenn genügend Geld für den Erwerb vorhanden ist,“ lese ich in dem Pamphlet. „Ihre Spende fördert einen kulturellen und kirchlichen Zweck und kann bei der Steuer geltend gemacht werden. ...“
Seit meinem letzten Besuch sind ein paar Tafeln an der Nordwand der Kirche hinzugekommen. www.evlka.de/extern/syke/buecken/kreuzwegbildergalerie.html

Als ich an diesem Sonntagmorgen zum Gottesdienst unter dem Häuflein der regulären Gemeinde sitze, höre ich, dass bei der letzten sonntäglichen Kollekte für Minderheitenkirchen in Südosteuropa etwas mehr als 26 Euro zusammengekommen sind. Die betuchten Spender, die den großartigen „Kreuzweg“ bis hierher finanziert haben, sind heute morgen wohl nicht da. In die beiden Samtbeutel an langen Stangen fallen wieder nur Münzen. Eine der Stangen mit dem Beutel am Ende wird von einem älteren Herrn durch die spärlichen Reihen gereicht. Er hatte zuvor zu diesem 19. Sonntag nach Trinitatis das Zitat aus dem Evangelium gelesen. ...

Eine Aufgabe, fällt mir ein, der ich möglicherweise ebenfalls hätte nachkommen müssen – heute in der „Martin-Luther-Gemeinde“ in Harare, wo Pastor Veller mich mit dem Charme eines fröhlichen Hirten zu solchem Dienst in der deutschen Gemeinde Zimbabwes zu vergattern pflegt. Manchmal flicke ich da auch das defekte Mikrofon an der Kanzel.

Die Stimme des älteren Herrn hier in der Kirche zu Bücken brauchte eigentlich gar keine Mikrofon-Verstärkung, er scheint gewohnt, sich vor größeren Menschenmengen zu artikulieren.

Die Stimme kenne ich!
Ich schaue mir den Mann genauer an als er mit dem Kollektenbeutel vorüberwandert.
Er ist es!
Ein bisschen kleiner und dünner vielleicht und ungefähr sechzehn Jahre älter.

1987 hat ihm in Zimbabwe meine Frau ihr Billet für die Kino-Premiere von Sir Richard Attenborough's Film „Cry Freedom“ abgetreten.
„Schrei nach Freiheit“ – „Cry Freedom“ – die Geschichte eines schwarzen Freiheitskämpfers in Südafrika: Steve Biko, und die Geschichte eines weißen Journalisten in Südafrika: Donald Woods.
„Schwarzer, verlass dich auf deine eigene Kraft“, so heißt ein Leitsatz des Black Consciousness Movement im Apartheid-Südafrika der 70er Jahre, dessen Zentralfigur Steve Biko (Denzel Washington) ist. Biko steht unter dem „Bann“, d.h. er wird ständig überwacht, darf sich nicht mit mehr als einer Person gleichzeitig treffen, darf weder seinen Wohnbezirk verlassen noch schreiben und keine Kontakte zur Presse pflegen. Er ist politisch isoliert.
Donald Woods (Kevin Kline), wohlhabender Weißer, schreibt als liberaler Journalist gegen das Apartheidsystem. Er lernt Biko kennen. Durch die entstehende Freundschaft radikalisieren sich seine Ansichten. Biko wird bei dem Versuch, sein Banngebiet zu verlassen, gefasst und stirbt an den Verletzungen, die er durch das darauffolgende „Verhör“ erlitten hat. Polizei und Regierung verständigen sich auf die „Selbstmordthese“.  Woods, entsetzt und verbittert, protestiert öffentlich gegen die Ermordung seines Freundes. Daraufhin wird er ebenfalls mit dem Bann belegt. Er durfte nicht mehr schreiben, keine öffentlichen Gebäude betreten, keine Veranstaltungen besuchen und er wurde ständig von der Sicherheitspolizei überwacht. Mordanschläge auf seine Familie machten ihm bewusst, dass er keine Chance hatte, in diesem Land zu überleben. Er beschloss, zu fliehen.
Am Silvesterabend 1977 machte er sich, als Priester verkleidet, das Manuskript zum Buch über seinen toten Freund in der Reisetasche, auf den gefährlichen Weg.

Der Film wurde in Zimbabwe gedreht. Die Premiere mit Regisseur Attenborough fand im Avondale-Kino-Komplex der Hauptstadt Harare statt, auf dessen Vorplatz kurz zuvor eine Bombe hochgegangen war, gelegt von Agenten des südafrikanischen Geheimdienstes. Entsprechend scharf waren die Sicherheitsvorkehrungen, denn zur Premiere hatte sich auch Zimbabwe's Regierungschef Robert Mugabe angesagt.
Ich empfahl meinem Gast, seinen Diplomaten-Pass bereitzuhalten, auf dem Billet für die Premiere stand nicht sein Name: Horst-Werner Franke ...

... Bildungssenator in Bremen, Präsident der deutschen Kultusminister-Konferenz auf Besuch u.a. bei deutschen Lehrern, die vom seinerzeit vorhandenen Lehrerberg in Deutschland zum Einsatz in's Land am Sambesi geschwemmt worden waren.
Im Internet finde ich den Hinweis auf einen Vortrag des Bildungsexperten Franke, bei dem er 1996 – schon im Ruhestand – überraschend weitsichtig die Diskussion um den Zustand der Schulen in Deutschland mit den seinerzeit noch relativ neuen elektronischen Medien verknüpfte.

Horst-Werner Franke
Schulen der Zukunft – zwischen Bildungsauftrag und Edutainment?
Vortrag auf der Internationalen Sommeruniversität Münster-Osnabrück 1996

... Die Schule, wie wir sie im Augenblick vorfinden, ist im wesentlichen eine Schule, die sich, etwas überspitzt formuliert, in den letzten Jahrhunderten nicht so wesentlich verändert hat. Seit der Zeit des Mittelalters steht der Lehrer mit der vor ihm versammelten Schülerschar im Mittelpunkt des Geschehens. Wenn ein Lehrer von damals in einer Zeitreise in eine Schulklasse von heute käme, würde er natürlich eine ganze Menge von merkwürdigen Dingen entdecken, die er nicht kennt, aber die Grundstruktur, wie er mit Schülern umgeht, ist im wesentlichen gleich geblieben. Das ist auch die Einschätzung von Bildungsreformern. Allen Reformansätzen zum Trotz, hat die Schule ein großes Beharrungsvermögen bewiesen und sich im wesentlichen in den alten Strukturen, zwar ein wenig weiterbewegt, aber nicht prinzipiell geändert.
Eine wirkliche Bildungsreform, die diesen Namen verdient, könnte man auf eine kurze Formel bringen: sie zielt darauf, die Schüler nicht zum Objekt der Bildungsbemühungen, sondern zum Subjekt zu machen, den Einzelnen also zu einem wirklich handelnden Subjekt zu befähigen, der von sich aus agiert, das Notwendige lernt und etwas Vernünftiges unternimmt. Alle Reformansätze in dieser Richtung haben leider bisher keine ausreichende Breitenwirkung erzielen können. Die Gründe dafür kann man vielleicht sehr vereinfacht auf den Punkt bringen, dass wir keine Werkzeuge, keine Mittel zu einer durchschlagenden Reform in der Weise besessen haben, die tatsächlich ein neues Rollenverständnis für Lehrer und Schüler mit sich gebracht hätte. Die Situation, dass vor der Klasse oder Gruppe eine Lehrperson steht und doziert und die anderen zuhören müssen, ist von den Möglichkeiten her, über die wir bislang verfügt haben, nicht radikal aufzubrechen. Allerdings scheint es in der gegenwärtigen Situation zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Ansätze, Möglichkeiten oder Vehikel zu geben, die eine völlig neue Unterrichtssituation für die Schule ermöglichen.
Die Einführung der neuen elektronischen Medien in den Unterricht wird von den verschiedensten Stellen enthusiastisch begrüßt und als die Möglichkeit zur radikalen Umgestaltung von Schule gesehen. Vielleicht leben wir im Augenblick in so einer Art Zwischenzeit, in der eine jahrhundertelange Schulentwicklung zu Ende zu gehen scheint und sich eine völlig neue Form von Schule abzuzeichnen beginnt. Wenn man diese neue Form von Schule versucht, visionär oder utopisch zu beschreiben, dann könnte man meinen, zunächst einmal große Begeisterung dafür zu finden. Im Schulalltag sieht das jedoch in der Regel anders aus.
Wenn Schüler mit den neuen elektronischen Medien im Unterricht bekanntgemacht werden, dann geschieht das bei uns im Augenblick in der Regel dadurch, dass man bestimmte Unterrichtseinheiten zur Verfügung stellt und sagt, so hier in diesem Punkte werdet ihr die elektronischen Medien einmal kennenlernen. Diese Einführung in ein neues Feld wird dann in der Regel nur als eine Art Fachunterricht verstanden. Das, was jedoch eigentlich für die neue Form von Schule gemeint sein könnte, ist etwas anderes. Es zielt auf eine völlige Auflösung der bisherigen Unterrichtsstruktur, eine völlige Abkehr von dem Prinzip eines geplanten, reglementierten, von einem Lehrplan und einem Fundamentum bestimmten Unterrichts.
Die Schule von morgen könnte so aussehen, dass jeder Schüler sich mit Hilfe der elektronischen Medien seine eigene Wissensentdeckungsreise selber zusammenstellt. ...

In gewisser Weise hat es unsere Tochter dem Bremer Bildungssenator Franke zu verdanken, mit den Ergebnissen ihrer vierjährigen Schulbildung in Zimbabwe zum Studium der Architektur an der Technischen Universität Berlin zugelassen worden zu sein. Dafür musste in Deutschland der im zimbabweschen Cambridge-System erworbene A-Level als vollgültiges Abitur anerkannt werden. Zuständig war dafür die Kulturbehörde des Bundeslandes, in dem Conny vor dem Afrika-Aufenthalt zur Schule gegangen war – Bremen. Senator Franke ließ seinerzeit für uns auflisten, welche Fächer im A-Level zu belegen seien, um dafür in Bremen später die Anerkennung zu erhalten.

Die Universität in Bremen hatte – seit Aufnahme ihres Lehrbetriebs im Jahr 1971 – nie einen offiziellen Namen, nur einen inoffiziellen, einen Schmäh-Namen – erfunden in der Gründerzeit von jenen, denen das Bremer Reformprogramm zu weit ging: „Rote Kaderschmiede“. Der damalige SPD-Landeschef in Bremen, Detlev Albers, seinerzeit von Gründungsrektor Thomas von der Vring an die neue Uni geholt, zeigt gerne ein altes Pressefoto, das ihn als studentischen Bannerträger zeigt. Auf dem Transparent steht:

„Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren“

Die Universität Bremen bezeichnet sich heute als das "Wissenschaftszentrum im Nordwesten Deutschlands". Sie ist Forschungsstätte für 1.427 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studienplatz für ca. 19.000 Studierende, viele von ihnen kommen aus der Südwelt. ... Aber es ist geruhsamer geworden auf ihrem Gelände. Bei einer Studentendemo in den frühen Achtzigern kroch ein Vierjähriger auf den Senator zu, und der studentische Vater schrie: "Beiß ihn ins Bein!" Im Winterstreikjahr 1989/90 fiel auf den Bremer Kultursenator Franke bei einem Auftritt an der Uni bloß noch mildes Konfetti.

1989, so erzählte mir Ex-Senator Franke bei sich zu Hause, hätten seine Frau und er das alte Schulhaus in Windhorst im Kirchspiel Bücken gekauft. Seit er sich von dort immer 'mal wieder mit aufmüpfigen Zwischenrufen äußerte, ... zum Beispiel in der "tageszeitung" zu finanz- und bildungspolitischen Fragen, gilt Franke in Bremer SPD-Kreisen als "Abtrünniger". Nach Ende des Gottesdienstes erinnern wir uns an Stationen unserer Begegnungen hier oben im Norden und unten im Süden. Hier im Norden hatte er nach einer meiner Matinee-Veranstaltungen zusammen mit dem Bremer Dom-Prediger Günter Abramzik auf den Stufen des Übersee-Museums zugunsten eines bolivianischen Bergarbeiter-Radios die soeben frisch gegossene Figur eines Zinn-Lamas versteigert.

                                                         Horst-Werner Franke starb am 20.12.2004.



Hier Video zur KJS-Sendereihe "Matinee in Übersee" ansehen
mit Windows Media Player:
http://www.radiobridge.net/videos/matinee.mpg


FOTOS:
KJS-Archiv © Klaus Jürgen Schmidt

Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Pablo_Hirndorf