Protokoll einer Begegnung in Zimbabwe (1988)
Klaus Jürgen Schmidt
Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Bei einem abendlichen Spaziergang erzählt mir mein Freund Paul von seinem Liebeskummer. Eigentlich wollte er heiraten, doch daraus wird wohl nichts werden, ein Auto hat sich dazwischen geschoben!
Um die Geschichte dieser unglücklichen Liebe zu verstehen, ist vielleicht die Beschreibung einer Straßenszene hilfreich:
Ich halte an einer Kreuzung in Harare, aus einer Seitenstraße biegt schnaufend ein schwerer Abschleppwagen. Im schwarzen Dieselqualm hinten am Haken hängt ein zweiter Abschleppwagen – etwas kleiner,und als der Konvoi über die Kreuzung kriecht, sehe ich am Haken dieses Wagens einen blauen PKW hängen. Da zieht die ganze Misere des zimbabweschen Automarktes vorüber. Im afrikanischen Vergleich fährt wohl über das beste Straßennetz die älteste Autoflotte des Kontinents. Fahrzeuge aus den Fünfzigern, nicht der Nostalgie wegen, sondern aus ökonomischem Zwang heraus instand gehalten, bewältigen den individuellen Verkehr.
Ich verwirre eine Besucherin aus Deutschland nachts auf dem Weg vom Flughafen mit dem beiläufigen Hinweis: "Da – schon wieder ein alter Jaguar!" "Wo – wo?" Und sie blickt vergeblich nach dem gefleckten Raubtier aus.Da also Neuwagen wegen harter Devisenbeschränkungen kaum eingeführt werden und darüber hinaus einhundert Prozent Zoll erhoben wird, stellen die wenigen importierten Autos in Zimbabwe einen ungeheuren Wiederverkaufswert dar.
Pauls Freundin war nach zweijähriger Arbeit in Paris mit einem solchen Auto heimgekehrt, das den Gegenwert einer Einfamilien-Villa repräsentiert. Die Shona-Tradition, so erklärt mir nun mein Freund, orientierte sich bei Verhandlungen über Eheschließungen schon immer an materiellen Gegebenheiten, eine Verbindung der Tochter mit einem materiell weniger gut gestellten Schwiegersohn kommt nicht infrage. Die fällige Kuhherde ist in der afrikanischen Stadtgesellschaft durch das Auto abgelöst, oder durch eine Farb-TV-Video-Anlage, oder durch Bargeld.
Wir wandern durchs rote Abendlicht und reden über eine Tradition, die nur vordergründig etwas zu tun hat mit dem Einbruch moderner Konsumgüter aus der fremden Welt, und gar nichts mit Lösungen, die etwa im Katechismus marxistisch-leninistischer, also europäischer Handlungsanweisungen zu finden wären. Afrika schreibt schlicht fort, was Männer überall in der Welt ihren Frauen antun, mit Billigung der ganzen Sippe. Das System haben Generationen ausgeklügelt: Töchter, sonst ja zu nichts nütze, haben wenigstens zur Vermehrung des Sippenbesitzes beizutragen wenn sie heiraten.
"Auf der anderen Seite," sagt Paul, "würde auch meine Familie dieser Verbindung niemals zustimmen. Meine Frau mit ihrem Reichtum würde ihrer Familie traditionell das Recht geben, bei uns das Sagen zu haben."
"Heißt das, ihr beide habt euch zu beugen?"
"Es ist einfacher, dass ein Afrikaner eine Weiße zur Frau nimmt, als dass ich in eine schwarze Familie heirate, die reicher ist als die meine.Es ist nicht nur die materielle Überlegenheit. Die mag sich ausdrücken in drei Autos, in fünf Häusern oder einem dicken Bankkonto, mit dem meinetwegen eine Satelliten-Antenne gekauft werden kann. Es ist die ungebrochene Überzeugung, dass dies der Wille unserer Ahnen ist. Selbst wenn wir beide beschließen würden, unseren Willen durchzusetzen, unsere Familien würden mit uns brechen. Jedes Unglück, das später einträte, würde uns angelastet, würde sozusagen beweisen, dass wir fehlgeleitet waren. Und natürlich werden Unglücke passieren, jemand wird krank, Kinder sterben – das ist der Lauf des Lebens. Nur werden wir die Schuldigen sein, verstehst du? Die Alten werden dafür sorgen, dass sich an diesem Glauben nichts ändert!"
"Aber das heißt doch auch, dass die Chancen für junge Frauen, einen Mann zu finden, immer geringer werden, je mehr sie sich zum Beispiel beruflich qualifizieren?"
"Das ist der Hauptgrund, der vor allem auf dem Lande Familien veranlasst, Mädchen den Zugang zu einer besseren Ausbildung zu verweigern. Dort sind die Aussichten für eine gute Heirat natürlich viel dünner gesät, und die Tochter in der Stadt, oder gar im Ausland ihren eigenen Weg gehen zu lassen, das verbietet die Moral und der Geldbeutel. Was da drin ist, wird allenfalls einem Sohn zur Weiterbildung zur Verfügung gestellt."
Mich übermannt die Ungeduld. "Ja, verdammt noch mal, wofür habt ihr denn gekämpft?" frage ich Paul, der mehr als zehn Jahre seines jungen Lebens im Guerillakrieg verbracht hat.
"Wir haben gegen die Unterdrückung durch die Weißen gekämpft. Vielleicht haben wir dabei den Fehler gemacht, uns niemals umzuschauen, um zu sehen, woher wir kamen. Deshalb wissen wir nicht, wohin wir gehen."
Paul schreibt an einem Buchskript mit dem Arbeitstitel "Marsch zum Horizont", in dem er über seine Erfahrungen im Befreiungskampf reflektiert. Er ist einer der ganz wenigen Schwarzen, für die nach dem Sieg noch viele Fragen ungeklärt sind. Dabei geht es ihm um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, mit den Hindernissen von Traditionen, die in der Aussperrung von Verantwortung für den Aufbau einer modernen Gesellschaft durch Generationen in den Schwarzen-Siedlungen auf dem Lande und in den Städten weiter wucherten. Bis heute ist noch nicht der ganze Umfang des Einflusses von Magie und Ahnenbeschwörung erforscht, der auch im zweiten "Chimurenga", dem endlich erfolgreichen schwarzen Befreiungskampf wirkte. Aber die Zeitungen berichten nahezu wöchentlich von besessenen Schulkindern, von Geisterbeschwörern, Mädchenbeschneidungen, und Sekten aller Schattierungen haben Hochkonjunktur.
Nach unserem langen Spaziergang lauscht Paul gespannt einer Diskussion, die sich in unserem Garten zwischen meiner Tochter und mir über Möglichkeiten und Grenzen der Computer-Technologie entwickelt. Es ist nicht das Thema, es ist die Art unseres Umgangs, die ihn fasziniert. Als die Tochter sich maulend in ihr Zimmer zurückzieht, weil ihr die Argumente ausgingen, bleibt er eine Weile still.
"Weißt du, das war das erste Mal, dass ich so etwas erlebt habe."
Paul trinkt nachdenklich aus seinem Glas.
"Wie war das bei mir zu Hause? – Ich habe nie bei meinem Vater gesessen. Wir Kinder hatten unseren Platz draußen vor der Hütte, bis zum Schlafengehen. Dort spielten wir miteinander, und nur wenn Vater nach irgend etwas rief, zum Beispiel ein Bier haben wollte, dann näherten wir uns ihm, ehrfürchtig, reichten ihm das Gewünschte. Eine solche Diskussion zwischen uns wäre nie möglich gewesen!"
Paul umreißt in einer kurzen Reflektion das Grundproblem, das offenbar weder seine Generation noch die Weißen im Lande bei ihrem Klagen über das Unvermögen der Schwarzen, die Anforderungen einer modernen Entwicklungsgesellschaft in den Griff zu bekommen, bisher erkannt haben. Sie, die Weißen haben das Unkraut wirrer Phantasien mit dem daraus folgenden Gehorsamsgebot gegenüber Ahnen und Alten wuchern lassen; sie waren ausschließlich an der Kontrolle der schwarzen Arbeitskraft interessiert.
Durch das Fernhalten von jeder Verantwortung im Modernisierungsprozess der rhodesischen Gesellschaft fehlten jeder nachwachsenden schwarzen Generation Erfolgserlebnisse, die ihnen die Möglichkeit gegeben hätten, sich von der Bevormundung der Alten auf Dauer zu emanzipieren. Auf der anderen Seite ist der einzige Triumph der jüngsten Generation – militärisch und politisch den Weißen das Recht abgerungen zu haben, dieses Land zu regieren – durch das Erbe der im Befreiungskampf mitgeschleppten schwarzen Vergangenheit schon korrumpiert. Dieses Erbe heißt:
TRIBALISMUS!
(Wobei mir einfällt: Ein aufmerksamer Hörer des BBC-Worldservice' fragte im Juli 1989 aus Afrika in London an, weshalb Streit zwischen Völkern in Europa "ethnische Unruhen", Streit zwischen Völkern in Afrika aber "Stammes-Konflikte" genannt würden! Sein Brief wurde verlesen, eine Antwort blieb aus.)
Wir hatten uns aus den Augen verloren, Paul und ich. Im Frühjahr 2011 hatte er sich noch einmal gemeldet:
Subject: Your projects
Date: 30.05.2011 16:34:48 Mitteleuropäische Zeit
Hi Klaus!
It's good to know you are still as sharp as ever. I stumbled uponyour projects on the internet and I was astonished. You have gone deeper in complexity. I will have to read through your articles a couple of times to try and farthom the geast of your writings.
For now let's just say I will be in touch.
I hope you remember me. Things got tough but I have come around somewhat.
Paul Mutangadura.
Die letzte Nachricht:
2012-01-12 12:35:00 – HARARE
Mutangadura, who was 57, died at Murambinda Hospital yesterday after a long battle with cancer.
FOTOS: KJS / Zimbabwe Broadcasting Corporation
Info: http://www.radiobridge.net/www/derweg/derwegintro.html