Bildschirmfoto 2020 11 22 um 21.15.46DAS JÜDISCHE LOGBUCH  Ende November  2020

Yves Kugelmann

Stuttgart (Weltexpresso) -  November 2020. Die Stadtbibliothek von Stuttgart ist ein Statement. Ein architektonisches Ereignis mit Inhalt. Gebaut im Zentrum eines Wohn- und Einkaufsdistrikts. In Zeiten der Pandemie und des Shutdowns werden Bibliotheken einer der wenigen Orte der Begegnung von Menschen, Themen, Büchern. Ort der Reflexion in Zeiten der Verordnungen, Verlautbarungen, Vereinheitlichung.


Es sind die Tage, in der der trumpsche Wahnsinn endgültig sein Ende nimmt und doch viele Wahn-sinnige in der engeren Wortbedeutung nicht verschwinden werden. Es sind die Tage, da Joe Biden inmitten der wütenden Pandemie versucht, Amerika zurück in die Zukunft zu holen, den Schulterschluss mit Europa und den rechtsstaatlichen Verfassungsdemokratien sucht und ein Kabinett präsentiert, das die liberale Gesellschaft zum Mass der Dinge nimmt.

Dazu gehört auch, dass Minderheiten ihren Platz nicht permanent erkämpfen müssen, sondern zugesichert erhalten. Dazu gehört der staatliche Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Es sind die Tage, in denen Regierungen wiederum ohne Parlamente regieren, in denen Kultur, Bildungsinstitutionen, Gesellschaft weitgehend für unmündig erklärt und vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Es sind die Tage der frühenImpfeuphorien und beginnender zynischer Verteildebatten. Es sind die Tage der Stigmatisierung von Kranken, der Isolation vor anderen weit über vernunftbasierte Hygienemassnahmen hinaus.

Es sind die Tage der Entzweiung, die Tage der Eliten und nicht die Tage, in denen Schwache, Bedürftige, Einsame ins Zentrum gerückt werden. Es sind die Tage, in denen nach wie vor Lüge, Populismus, Verschwörungstheorien die Wahrheit, die liberale Gesellschaft und die Vernunft torpedieren. Es sind die Tage, die der Beginn sein könnten neuer Ungleichheit, neuer Armut, neuer Klassenkämpfe, neuer Entsolidarisierung. Kalte Tage, die Wochen und vielleicht noch Monate dauern werden. Was wäre dann? Ein Teil der Wirtschaft bekommt Geldstützen. Doch was ist mit allem anderen? Mit Gesellschaft, Kultur, Sport, Glaubens- und anderen Gemeinschaften?

Wer trägt irgendwann Verantwortung auch für falsches Handeln? Wer schützt nicht zuerst Systeme, sondern Menschen? Es sind die Tage, in denen sich Rechtsextremismus seit 2014 weltweit verdoppelt hat, wie der am Mittwoch vom Institute for Economics and Peace in London präsentierte «Global Terrorism Index» festhält, und der Deutsche Bundestag gleichentags ein mit einer Milliarde dotiertes Programm gegen Rechtsextremismus ankündigt. Es sind absurde Tage, weil sie so wirklich geworden sind. So wirklich und in Büchern so oft vorhergeschrieben zwischen Apokalypse und Aufbruch. Die Stadtbibliothek macht diese Schriften zugänglich.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 27. November 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.