Vom Privileg, die Welt kennenzulernen – Teil 3/3

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Conny erzählt: Manila war die Stadt, wo ich vieles zum ersten Mal erlebte, was in Südost-Asien anders ist als bei uns.
In unserem Hotelzimmer zum Beispiel gab es eine Art elektrischen Ofen. Der kühlte drinnen und blies die heiße Luft nach draußen, und er machte dabei ziemlich viel Krach. Solche Apparate heißen "Air Condition" – das ist englisch und man spricht es "Ähr Kondischen".

Am Anfang konnte ich überhaupt kein Englisch. Das war schlimm, weil ich doch auch mit keinem Kind reden konnte. Neben unserer Hotel-Wohnung lebte eine Familie mit einem Mädchen. Das war ein Jahr jünger als ich. Es sah genauso aus wie Kinder auf Bildern aus Asien, die ich zu Hause gesehen hatte: Glattes schwarzes Haar mit einem Ponyschnitt und ganz dunklen Augen. Wie soll ich die Form dieser Augen beschreiben? Ihr bekommt einen Eindruck davon, wenn ihr vor dem Spiegel eure Augenwinkel mitden Fingern leicht nach außen zieht. Die Erwachsenen sagen dazu "Mandel-Augen".

Das Mandelaugen-Mädchen wurde meine erste Freundin in Südost-Asien. Sie war auch fremd in Manila. Ihre Eltern kamen aus Korea – das ist ein Land weiter nördlich in Asien, gegenüber von Japan. Wir konnten zuerst kein Wort miteinander reden. Also nahmen wir uns bei der Hand, und dann fuhren wir mit dem Hotel-Fahrstuhl immer rauf und runter. Dabei lernten wir unsere ersten englischen Wörter, denn alle Leute, die den Fahrstuhl benutzten, fragten uns: "What's your name?"
Klar, sie wollten unsere Namen wissen.

Ich sagte: "Constanze Schmidt!" Meine Freundin sagte: "Kwang Bae Kim!"
Und weil das keiner richtig verstand, sagte ich später nur noch "Conny", und meine koreanische Freundin sagte "Kim".
Schließlich fragten die Leute: "How old are you?"
Klar, das hieß: "Wie alt seid ihr?" Das fragt ja zu Hause auch jeder Fremde zuerst.
So fingen wir an, Englisch zu reden: "Six," sagte ich. "Five", sagte Kim.




"Aber wieso wird hier Englisch gesprochen," wollte ich am Abend von Klaus wissen, "und nicht Philippinisch?"
"Oh, es gibt hier mehr als einhundert verschiedene Sprachen und Dialekte."
Klaus schlug ein Buch auf.
"Das habe ich mir heute besorgt, Darin steht fast alles, was du über Land und Leute wissen willst. Weißt du, wie viele philippinische Inseln es gibt? ... Siebentausendeinhundertundsieben! Und da werden Sprachen gesprochen, die heißen zum Beispiel 'Cebuano', 'Bikol', 'Pampango' oder 'Ilocano'. Am häufigsten aber wird 'Tagalog' gesprochen, das ist die philippinische Nationalsprache seit 1946."
"Tagalog klingt lustig. Habe ich aber noch nie gehört, immer bloß Englisch!"
"Doch," behauptete Klaus, "bei der Parade die National-Hymne – das ist das, was bei uns 'Deutschland-Lied' heißt. Hier ist sie übrigens abgedruckt."



Englisch:                                       Tagalog:                                 Deutsch:
"Land of the morning                     "Bayang magiliw                     "Land des Morgens
Child of the sun returning              Perlas ng Silanganan             Kind der wiederkehrenden Sonne
With fervour burning                      Alab ng puso                          Mit brennender Glut
Thee do our souls adore."             Sa dibdio mo'y buhay."           lieben unsere Seelen Dich."


"Aber," beharrte ich, "die meisten Einheimischen reden doch englisch hier in Manila und nicht Tagalog!"
Klaus lachte: "Ja, wenn sie mit Ausländern reden."
"Aber warum dann nicht Deutsch?"
"Also, um genau zu sein, sie sprechen auch nicht Englisch, sondern Amerikanisch. Sie haben es nämlich von den Amerikanern gelernt, die ungefähr fünfzig Jahre lang bestimmten, was die Filippinos zu tun und zu lassen hatten!"

"Was hatten denn die Amerikaner hier zu suchen?"
"Die hatten sich Ende des vergangenen Jahrhunderts mit den Spaniern um die Insel Kuba gezankt. Die liegt zwar auf der anderen Seite der Erde, aber Kolonialisten kannten keine Grenzen für ihr Machtstreben.
Am 1. Mai 1898 versenkte eine amerikanische Flotte hier in der Bucht von Manila die spanische Flotte, und aus war es mit der spanischen Herrschaft über die Philippinen. Die hatte 350 Jahre gedauert.
Heute wird die spanische Sprache hier kaum mehr benutzt. Ein paar Begriffe sind geblieben, zum Beispiel der Landesname: Philippinen – nach dem spanischen König Philipp II.

Na ja, und noch 'was ist geblieben: Die Filippinos sind die einzige katholische Nation in ganz Asien! Die spanischen Priester waren sehr erfolgreich. Allerdings haben sie öfter durch Soldaten nachhelfen lassen, denn es gab immer wieder Befreiungsversuche und Aufstände.
Die Amerikaner schließlich haben damit angefangen, hier das Lesen und Schreiben einzuführen – auf Englisch natürlich."
"Und dabei hat Conny Glück, dass sie jetzt bloß Englisch und nicht etwa Japanisch lernen muss," warf Elsa ein.
"Wieso denn das?"
"Weil im Zweiten Weltkrieg die Amerikaner von den philippinischen Inseln durch die Japaner vertrieben wurden. Das hat Klaus noch nicht erzählt."

"Richtig. Japan schlug sich auf die Seite der Faschisten und überfiel am 7. Dezember 1941 den amerikanischen Marine-Stützpunkt Pearl Harbour. Einen Tag später bombardierten japanische Flugzeuge Manila. Die Philippinen waren drei Jahre lang von den Japanern besetzt. ...

... Wir werden einmal zum Fort Bonifacio hinausfahren, das hieß früher Fort McKinley. Dort sind über 17.000 amerikanische Soldaten beerdigt, die bei diesen Kämpfen ums Leben kamen.
1944 siegten die Amerikaner über die Japaner – sie warfen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
1946 wurden die Philippinen unabhängig.
1947 schließlich erhielten die USA einen Vertrag, der es ihnen erlaubte, für 99 Jahre Militärstützpunkte hier zu unterhalten.
Und von diesen Stützpunkten aus flogen dann amerikanische Bomber nach Vietnam!"
Klaus schlug noch einmal das Buch auf.
"Wisst ihr, wie die zweite Strophe der Philippinischen Nationalhymne heißt?"

Englisch:                                          Tagalog:                                     Deutsch:
"Land dear and holy                        "Lupang hinirang                        "Land, geliebt und heilig
Cradle of noble heroes                    Duyan ka ng magiting                 Wiege edler Helden
Ne'er shall invaders                         Sa manlulupig                             Nie mehr sollen Eindringlinge
Trample thy sacred shores."            Di ka pasisiil."                             Deine geheiligten Küsten verwüsten."

"Aber du hast recht, Conny," sagte Klaus. "Es wird viel zu viel englisch und kaum Tagalog gesprochen – vielleicht gibt es noch zu viele Ausländer hier! Weißt du was? Morgen früh sagen wir nicht 'Good Morning', sondern 'Mabuhay'!"

In jedem Land auf unserer Reise wohnten wir zuerst ein oder zwei Wochen lang in der Hauptstadt. Klaus und Georg, der Fotograf, bereiteten die Verabredungen für ihre Arbeit vor. Daraus entstand der Plan, nach dem wir später durch's Land reisten. Elsa und mir blieb dabei viel Zeit, um auf eigene Faust loszuziehen.

In Manila hatte ich am Anfang nicht viel Spaß daran, denn bei jedem Spaziergang passierte dasselbe: Alle Welt starrte mich an, dauernd zeigte irgend jemand mit dem Finger auf mich. Ich merkte, wie die Erwachsenen über mich tuschelten, die Kinder liefen mir nach, und am Schlimmsten war es, wenn sie mich anfaßten: Sie strichen mir über den Kopf, sie stupsten mich an der Nase, sie kniffen mich in die Wange und manchmal zogen sie sogar an meinen Haaren – und das tat ziemlich weh!

Ich glaube, ich bin nicht sehr freundlich zu all diesen aufdringlichen Leuten gewesen. Das merkte schließlich auch Elsa, und sie sagte: "Erinnerst du dich daran, was zu Hause passiert, wenn auf der Straße ein farbiges Kind spazieren geht – ein kleiner Junge aus Afrika zum Beispiel? Oder stell dir vor, deine Freundin Kim würde mit ihrer Mutter über den Marktplatz in Bremen laufen! Würdest du dich nicht auch nach ihr umdrehen?"

Ich linste hinter meinem Sonnenschirm hervor, den ich zum Schutz vor den neugierigen Blicken aufgespannt hatte. Tatsächlich – die Menschen um mich herum hatten eigentlich ganz freundliche Gesichter.
"Kinder mit blondem Haar und mit so heller Haut laufen nicht so oft hier herum," erklärte Elsa.
Wir standen vor einem Geschäft mit einer Spiegelscheibe, aus der guckte mir ein knallrotes Gesicht entgegen. Was Elsa blondes Haar nannte, klebte ziemlich dunkel – weil schweißnass – auf diesem Tomatengesicht.
Aber bitte, wenn das 'was besonderes ist – wie sagen die Erwachsenen?
"Exotisch!"
Von da an hatte ich nichts mehr dagegen, wenn sich 'mal im Park jemand mit mir fotografieren lassen wollte. Wenn wir uns auch nicht verstehen konnten, zusammen hatten wir dann meistens 'was zum Kichern.
Es fiel mir aber auf, daß wir kaum anderen weißen Kindern begegneten, wo doch Klaus und Georg so viel mit weißen Leuten zu bereden hatten, mit Angestellten von der Botschaft zum Beispiel.

Botschaft heißt in jeder fremden Hauptstadt das Haus, auf dem die schwarz-rot-goldene Fahne weht. Andere Länder haben dort auch Botschaften, aber natürlich mit ihrer eigenen Fahne. Der Chef einer Botschaft heißt Botschafter. Er ist so eine Art Briefträger und übermittelt Botschaften zwischen seiner und der fremden Regierung. Außerdem fährt er in einem großen schwarzen Auto mit Chauffeur und einer kleinen Fahne vorn am Kühler. Die zeigt jedem Polizisten an, daß er schleunigst die Straßenkreuzung für den Botschafter-Wagen freizumachen hat. Wenn der Botschafter 'mal gerade keine Botschaft zu überbringen hat, dann muß er zu großen Festen, zu Empfängen oder zu einem Abendessen.

Die Leute von der Botschaft sind also sehr beschäftigt, dachte ich mir, und deshalb haben sie keine Zeit für Kinder. Und ähnlich wird es wohl auch den vielen Kaufleuten ergehen, den Fachleuten von Organisationen aus Europa und Amerika, den Entwicklungshelfern, mit denen sich Klaus und Georg trafen. Das dachte ich bis zu dem Abend, an dem wir unsere erste Einladung in das Haus einer weißen Familie bekamen. Als wir im Dunkeln zu ihrem Wohnviertel fuhren, musste unser Taxi plötzlich mitten auf der Straße anhalten. Ein großes Gittertor versperrte uns den Weg. Es befand sich in einem Drahtzaun. Der ging links und rechts von der Straße ab. Lampen hingen in regelmäßigen Abständen über dem Stacheldraht. Rechts vom Tor stand ein kleines Steinhaus. Von dort kam ein Mann in Uniform zu uns herüber. An seinem Gürtel baumelte ein Colt wie ihn die Film-Cowboys tragen.

"Der hat da keine Platzpatronen drin," murmelte Georg, und ich bekam auf einmal Angst. Aber der Mann wollte bloß wissen, welche Adresse wir dem Taxifahrer angegeben hatten. Dann notierte er sich das Kennzeichen unseres Autos. Wir mußten nicht aussteigen.
"Das wird nur von farbigen Besuchern verlangt," erklärte unser Taxifahrer. "Wenn man hier reinwill, ist die weiße Haut der beste Ausweis!"
Wir fuhren durch das Tor im Stacheldrahtzaun und kamen in eine Siedlung, in der alle Häuser noch einmal von hohen Mauern mit großen eisernen Toren umgeben waren. Als dann aber eines dieser Tore für uns zur Seite rollte, war das, als hätte Ali Baba "Sesam öffne Dich!" gerufen, um die Schätze der vierzig Räuber zu entdecken.
Das Prachtstück war ein beleuchtetes Schwimmbecken unter Palmen und Bananenstauden. Aber ich durfte nicht ins Wasser, weil wir doch zum Abendessen eingeladen waren, und das war schon auf der Terrasse angerichtet – mit sehr viel Mühe zubereitet, wofür es viel Lob für die Gastgeberin gab. Später – auf der Suche nach einer vollen Limonadenflasche – entdeckte ich zwei philippinische Küchenmädchen; die waren gerade dabei, für Nachschub zu sorgen. Es sah so aus, als hätten sie die ganze Arbeit gemacht.

Schließlich traf ich in diesem Haus auch mal wieder zwei weiße Kinder. Aber die wurden bald von ihrem philippinischen Kindermädchen zu Bett gebracht, weil sie am nächsten Morgen wieder vom philippinischen Chauffeur ihrer Eltern zur internationalen Schule von Manila gefahren werden sollten. Dort bekommen fast alle Ausländer-Kinder ihren Unterricht.

Morgens also mit dem Wagen hin – mittags zurück in die bewachte Weißen-Siedlung, wo außer ihnen nur noch ein paar schwerreiche Einheimische wohnen. Auf der Fahrt bleiben die Scheiben geschlossen, weil Europäer und Amerikaner zum Schutz gegen die Hitze teure Autos mit eingebauter Klima-Anlage benutzen. So sehen die meisten weißen Kinder die Welt da draußen immer nur durch die polierten Auto-Scheiben, und die einheimischen Kinder sehen die weißen fast nie!

... UND MORGEN:



Texte aus meinem Buch: „WIE ICH LERNTE, DIE WELT IM RADIO ZU ERKLÄREN“
Kellner-Verlag, Bremen, ISBN 978-3-95651-265-0

DIE KINDER-BRÜCKE
Vom Privileg, die Welt kennenzulernen
Eine Audio-Collage für kleine und für große Hörer
Nach einer Sende-Reihe im Bremer Bürgerradio jetzt auch im Internet!

Fotos:
©
KJS / Georg Fischer

Info: https://www.kellnerverlag.de/wie-ich-lernte-die-welt-im-radio-zu-erklaren.html