"In Bremen lässt sich ganz gut leben"

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Im Mai dieses Jahres ist ein Bremer Ehrenbürger 90 Jahre alt geworden. Der sagt: „Ich bin in Tübingen in die Kommunistische Partei eingetreten am Anfang des Studiums. Dort bin ich Funktionär der Freien Deutschen Jugend – der kommunistischen Jugendorganisation – geworden. Die wurde 1951 verboten, was uns nicht gehindert hat, ordentlich weiter zu machen. Dann hat man hat mich eingefangen und verurteilt zu 18 Monaten, von denen ich nur 9 Monate abbrummen musste. ...“


Millionen, Millionen, Millionen, Millionen –

Mal sehen, wie sie leben und essen und wohnen
Ich wollte nach China schon immer einmal,
Ich glaube, es wäre erstmal phänomenal!

Unter dem handgeschriebenen Gedicht eine Kopie dieser Geschäftskarte ...


... dann weiter: “Reise nach China 20. - 25.10.2013” und als P.S.: “Die Visa sind da!”

Das Gedicht zeigte mir der Empfänger des Blattes: Kurt Nelhiebel. Der Absender: Klaus Hübotter.

Beide sind Wahl-Bremer, beide hatten sich in ihren jeweiligen Lebensphasen hinter Pseudonymen zu verbergen, weil sie in unserem Land befürchten mussten, ihre publizierten Überzeugungen könnten sie persönlich gefährden.
Über den Empfänger des Gedichtes und dessen publizistisches Werk, auch unter dem Pseudonym “Conrad Taler” (de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Nelhiebel), haben „Weltexpresso“-Leser schon früher etwas erfahren. Mit dem Absender des Gedichtes, mit Klaus Hübotter, brachte mich Kurt Nelhiebel zusammen, als ich mich nach fast 30 Jahren Leben und Arbeiten in Afrika wieder in Bremen zurecht finden musste. Das China-Gedicht trug die handschriftliche Widmung: Asien für Kurt!

Bei WIKIPEDIA fand ich Einträge über Klaus Hübotter, die ich – seiner Lebenslinie folgend – so geordnet habe:

> Hübotter war seit 1950 Mitglied der KPD und Funktionär ihrer Nachwuchsorganisation Freie Deutsche Jugend.
> Nach dem Verbot der FDJ in Westdeutschland 1951 organisierte Hübotter in der Illegalität den Kontakt zu anderen linken Gruppen.
> 1953 wurde er verhaftet und kam für neun Monate in Untersuchungshaft.
> 1956 verurteilte ihn das Landgericht Düsseldorf als „Rädelsführer einer verfassungsfeindlichen Vereinigung“ zu 18 Monaten Gefängnis. Die nach Anrechnung der Untersuchungshaft verbleibende Reststrafe wurde vom NRW-Innenminister Rudolf Amelunxen auf dem Gnadenwege erlassen.
> Später wurde Hübotter Mitglied der DKP, die er 1991 verließ.
> Infolge der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und deren Verbot durfte Hübotter nicht als Rechtsanwalt arbeiten.
...
> Klaus Hübotter (* 1930 in Hannover) ist ein Bremer Bauunternehmer und Mäzen, der mit seinem Engagement bei der Erhaltung und Umnutzung stadtgeschichtlich bedeutender Bausubstanz sowie in der Kultur- und Friedensarbeit seine Wahlheimat Bremen nachhaltig prägt. > Hübotter ist der erste Träger der Bremer Auszeichnung für Baukultur.
> 1984 erhielt er für die Restaurierung der Villa Ichon den Deutschen Preis für Denkmalpflege.
> 2010 wurde er Bremens 30. Ehrenbürger. Bürgermeister Jens Böhrnsen verlieh ihm während einer Feier im Rathaus die Ehrenbürgerwürde für „... das jahrzehntelange große Engagement als Bauherr und Mäzen für die bauliche und kulturpolitische Entwicklung Bremens“. de.wikipedia.org/wiki/Klaus_H%C3%BCbotter

Im Bremer Lokal-Fernsehen:
http://ww.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/klaus-huebotter-bauunternehmer-geburtstag-100.html
)
17. Mai 2020. : Der Bremer Bauunternehmer Klaus Hübotter wird heute 90 Jahre alt. Eines verbindet etliche seiner Bauten: Für sie war der Abrissbagger fast schon bestellt. ...
Als andernorts noch angestrengt darüber gebrütet wurde, wie es mit den alten Hafenrevieren weitergehen soll, schuf Hübotter Fakten, baute den Speicher zu einem Preis um, den niemand für möglich gehalten hatte und gab die Initialzündung für die städtebauliche Entwicklung dort.
Dem ehemaligen Sendessaal von Radio Bremen hauchte er neues Leben ein, in einem der ältesten Häuser Bremens etablierte er das "Haus der Wissenschaft". Und das erste Kaufhaus Deutschlands verwandelte er Jahrzehnte später in die Heimat der Bremer Volkshochschule. Heute trägt es am Turm des markanten Baus wieder den historischen Namen "Bamberger". ...

An einem schönen Oktobersonntag, am 10.10.1993, schrieb Klaus Hübotter diese Ode an seine Wahlheimat:

In Bremen lässt sich ganz gut leben
es gibt nur selten Erdenbeben
die Weser fließt zumeist nach Norden
in Bremen gibt es keine Orden
am Werder ist es wunderschön
im Stadtwald kannst spazieren gehn
sogar die Stadt hat schöne Ecken
zur Not kann man sich auch verstecken
in irgendeinem Schrebergarten
und da auf bessre Zeiten warten
die Leute hier sind sehr zivil
Geld haben wenige zu viel
es wird nur wenig angegeben
wer freundlich ist, hat mehr vom Leben
und die paar Nazis, die man hat
die werden in der Stadt nicht satt
die Senatoren laufen rum
wie ganz normales Publikum
man kann sich auch mal ohne Kragen
und Schlips zum Bürgermeister wagen
vielleicht ist anderswo mehr los
die Stadt ist ja nicht grade groß
doch grade das verschafft Dir Raum
und hält die Großmannssucht im Zaum
dass die bekannten Musikanten
nie ihren Weg nach Bremen fanden
ist eigentlich nicht zu verstehn
ich will von hier nicht wieder gehn
ich bin jetzt 30 Jahr in Bremen
die lass ich mir nicht wieder nehmen.
bremen.vvn-bda.de/wp-content/uploads/sites/17/2013/03/BAF0111.pdf

Als ich sein Büro verließ, gab er mir zwei Dinge mit, einen Empfehlungsbrief und ein Buch. Das Buch, das er mir herausgesucht hatte, soll an dieser Stelle als seine Brücke zwischen Kulturen dienen. Klaus Hübotters Brücken reichten bis Afrika und bis China. Die Erfahrungen bei der ersten Brückenquerung allerdings – im Jahr 1980 – meinte Hübotter publizistisch nur unter einem Pseudonym bei Martin Klaußner, Fürth, veröffentlichen zu können:
Daraus:

3.5.80 > Liebe Freunde! Wenn Ihr diesen Brief erhaltet, bin ich mit G. in Südafrika (Republic of South Africa) bei einem meiner ältesten Freunde, bei F., mit dem ich jahrelang jeden blöden Schultag, Hintern neben Hintern, die Klassenbank gedrückt habe. Zufällig landete ich damals neben F. Neben ihm war der einzige freie Platz in der neuen Klasse. Dass er, außer mir, der einzige philosophische Kopf in der Klasse war, ist mir erst bei unserem letzten Abiturjubiläum klargeworden. Better later then never! Wir wollen jetzt zusammen unsere Geburtstage feiern, irgendwo zwischen Schwarzen und Weißen am Oranje-Fluß, sundowners, das sind Dämmerschoppen, trinkend. Was dort das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß betrifft, sind wir uns wenigstens schon in der Diagnose einig: Es geht nicht um Rassenfragen, es geht auch dort um Klassenfragen. Darf man in Südafrika Urlaub machen? Man darf nicht! Es sei denn, Ihr habt dort einen Freund ...

14.5.80 > “Nicht allein das Angeborene, sondern auch das Erworbene ist der Mensch.”
Maximen und Reflexionen (“Goethe in Südafrika“)
Nichts wäre also dümmer als anzunehmen, es genüge eine bloße Verfassungsänderung, gleich, ob von oben oder revolutionär von unten durchgesetzt, um die Schwarzen in gleichberechtigte und gleichbefähigte Bürger zu verwandeln. Man lässt sie nichts erwerben, weder Geld noch Bildung. Im Gegenteil, man hat ihnen alles, was sie hatten, genommen, materiell und kulturell. (Nur Ignoranten werden einwerfen: “Sie hatten ja auch vorher nichts”. Sie hatten sehr viel. Sie hatten ihr Land, ihre Tiere und Pflanzen, ihre Freiheit, Selbständigkeit und Würde, ihre Religion, Sprache, Kultur und ihre Familien. Was sie heute haben, ist ein Dreck: Blechbüchsen, Baracken, ein paar Lumpen, Alkohol und die Gewissheit, “Untermenschen” zu sein.) Also besteht ein ungeheurer Nachholbedarf. In jedem Fall wird es Generationen dauern, bis aus ihnen wieder “Menschen” geworden sind. Nur Dummköpfe können das in Abrede stellen und scheinheilig behaupten, es sei nichts weiter notwendig, als die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Allerdings ist auch klar, dass ohne revolutionäres Verhalten der Schwarzen selbst nichts in dieser Hinsicht erreicht werden wird. Goethe hat nicht gesagt, “auch das ihm Geschenkte sei der Mensch”, sondern er hat von “Erworbenem” gesprochen. Erwerben muss man selbst. Die Schwarzen werden nicht weiß werden. Aber sie werden andere Gesichter haben als heute. Das Unterwürfige, Verängstigte, Freudlose und Verbitterte, das ihre Physiognomien im wesentlichen von denen der Weißen in Südafrika unterscheidet, wird verschwinden. Ihre Körper werden gesünder, grader, kräftiger, aufrechter und schön sein.

19.5.80 > Zu Ehren meines Geburtstages
Zwischen Haus und Meer steht auf dem Strand das übliche Schild: STRANDGEBIED VIR BLANKES ALLEEN BEACH AREA FOR WHITES ONLY
Bis zum Abend des 18. Mai steht es dort, fest angeschraubt an tief eingegrabenen Pfählen. Am Morgen des 19. Ist es verschwunden.

Für 16 chinesische Freunde und für Kurt Nelhiebel daheim in Bremen schrieb Klaus Hübotter am 28. April 2014 in Peking noch ein China-Gedicht:

Erst heute lernen sie sich kennen,
Weil sie sich jetzt berühren können.
Zwei Welten stoßen aufeinander,
Ganz fremd und doch ganz nah verwandt,
weil sie vor hunderttausend Jahren
Ein Herz und eine Seele waren.
Nun können wir es wieder sein
Und uns gemeinsam drüber freu’n.


Fotos:
Wikipedia / zitierte Webseiten