Klaus Jürgen Schmidt
Nienburg/Weser (Weltexpresso) –
"Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all..."
Während Christen in aller Welt schon jetzt die Ankunft des Jesus-Kindleins lobpreisen, erinnere ich mich an meine erste Erfahrung mit Bomben, Napalm, Granaten, Bodenminen, Gift, die im Auftrag eines "christlichen" Staates des Westens Kinder in einem nicht-christlichen Land des Ostens vernichteten – Weihnachtsfeiertage nicht ausgenommen.
Der Krieg in Vietnam war noch nicht zu Ende, als ich mich als junger Reporter Anfang 1973 über das Schicksal kriegsverletzter Kinder in Vietnam informierte, um die sich die deutsche Hilfsorganisation "Terre des Hommes" kümmerte.
Dies ist meine "Weihnachtsgeschichte" – Erfahrungen in Vietnam und in Deutschland, zusammen mit dem Freund und Kollegen Michael Geyer.
Zehn Jahre später wäre ohne die Solidarität vietnamesischer Fernsehkollegen unser Film nicht zustande gekommen: Schon am zweiten Tag unseres Vietnam-Aufenthaltes sind wir in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Der klapprige VW-Bus des „Terres des hommes“-Zentrums war auf dem Weg von Ho Chi Minh-Stadt nach Vung Tau bei einem Ausweichmanöver mit einem Militär-LKW zusammengestoßen. Weil wir dicht gedrängt saßen, gab es nur Platzwunden und Prellungen, aber unsere Filmkamera war zerbrochen.
Das Fernsehstudio half uns aus – mit einer Kamera und mit einem Kameramann. Und als wir nach Rückkehr bei Radio Bremen feststellten, dass eine Filmrolle mit wichtigen Porträtaufnahmen fehlerhaft war, genügte ein Telegramm nach Ho Chi Minh-Stadt, wenige Wochen später erhielten wir Filmmaterial, das der Kollege Vo Cuong nachgedreht hatte – Großaufnahmen von zwei jungen Vietnamesen, die als Kinder schwerverwundet in Bremen waren.
Eine Hand, die wieder arbeiten kann. Verstümmelt durch eine Granate, mit der die Kinderhand spielte ... vor dreizehn Jahren in einem Dorf im Mekong-Delta in Vietnam. Jetzt kann die Hand wieder fühlen, greifen, arbeiten. “Schöne Wolke” nannten Helfer von “Terre des hommes” die Luftbrücke, die Le Van To in eine deutsche Stadt verschlug, nach Bremen.
“To, woran erinnerst du dich in Bremen?”
“Ich erinnere mich in Bremen an das Krankenhaus. Ich erinnere mich an den Doktor, die Schwestern.”
“Wann warst du in Bremen?”
“Das war 1969-1970.“
“Hast du da auch ‘mal einen Winter erlebt?”
“Ja – schönen Schnee.“
Als To in Bremen, war, hieß diese Stadt noch Saigon. Jetzt sagen sie Ho Chi Minh-Stadt, geblieben sind die Spuren von dreißig Jahren Krieg und sozialer Zerrüttung. Fünf Jahre haben nicht ausgereicht, mit allen Auswüchsen der alten Verhältnisse fertigzuwerden. Es gibt noch einen florierenden Schwarzmarkt, es gibt illegale Prostitution und arbeitslose Jugendliche.
Aus dieser Stadt stammen die meisten Menschen, die als boat-people aufs Meer gehen, als Flüchtlinge, in der Hoffnung, irgendwo wiederzufinden, was die Dollar-Schwemme möglich machte in der Zeit des Krieges.
Keine Chance wegzugehen haben die unmittelbaren Opfer dieses Krieges – Waisenkinder, Krüppel.
Wie geht das neue Regime mit diesen Schwächsten der Gesellschaft um? Das wollten wir – fünf Jahre nach Kriegsende – im früheren Saigon erkunden – und trafen ihn: Le Van To – und seinen Freund Vo Suong, die beiden Jungen, die in Bremen waren. Wir haben ihre Spur zurückverfolgt und ein Foto gefunden, das Vo Suong und To zusammen zeigt, 1971 beim Besuch eines südvietnamesischen Ministers im Evangelischen Johannisstift in Vechta – eine der Stationen für kriegsverletzte Kinder aus Vietnam.
Fragen an den damaligen Vorsitzenden von “Terre des hommes” / Deutschland, Dr. Christian Kingreen:
“Herr Dr. Kingreen, warum haben Sie damals die Kinder eigentlich rausgeholt aus Vietnam, statt sie da zu versorgen?”
“Weil wir den Eindruck hatten, dass die Kinder in Vietnam nicht ausreichend versorgt werden konnten, dass es besonders für schwerkranke Kinder in Vietnam, besonders auch in Saigon, eben keine Möglichkeiten der medizinischen Behandlung gab.”
Fernsehbilder von damals: Die “Aktion Schöne Wolke” brachte bundesdeutsche Bürger zum ersten Mal direkt mit Opfern des Vietnamkrieges in Berührung.
Gisela Arndt – damals Mitarbeiterin von „Terre des hommes“ – erinnert sich:
“Die Kinder kamen in Decken eingewickelt aus dem Flugzeug, wurden sofort in zwei Krankenhäuser gebracht und dann erstmal ausgewickelt – Sachen gewaschen, entlaust, gekämmt. Sie kamen an wie eben Kinder aus dem Krieg kommen. Sie kamen stumm und taub – kann man ja sagen, nicht? – zu uns. Sie waren auch erstarrt. Die Kälte war es nicht, denn in dem Kinderkrankenhaus war eine gleichmäßige Temperatur, aber sie wirkten trotzdem wie in der Kälte erstarrt. Und wir versuchten, sie aufzuwärmen – eben mit diesen leisen Berührungen. Man durfte auch nicht sie überfallen – das wäre schlimm gewesen. Es fing so an – zuerst war eine Totenstille im Saal, wo die siebzehn Kinder lagen. Sie konnten kommen, wann sie wollten – es war leise. Und nach drei Wochen war so ein zwitscherndes Geräusch – sie kennen ja die vietnamesische Sprache wahrscheinlich – dieses Zwitschern, das erfüllte den ganzen Raum.“
Zeichnungen der Kinder aus den ersten Wochen: Erinnerung an die Heimat spiegelt das Erlebnis des Krieges wider. Der Himmel gehört nicht den Vögeln, sondern Bombern aus Amerika. In späteren Zeichnungen – so berichten Betreuer – werden die Symbole des Krieges, Flugzeuge und Panzer, seltener. Neue Eindrücke in einem ganz und gar fremden Land nehmen die Kinder voll in Anspruch.
Erstes Weihnachtsfest für To 1970 in Vechta. Die Zeitung schreibt:
“Sie bewahren unter ihren wenigen Habseligkeiten ein Konterfei Buddhas auf und sind begeisterte Anhänger der Beatles ... Doch wenn sie abends nach der gewohnten Fernsehstunde im Bett liegen, dann schleicht sich das Heimweh bei ihnen ein.”
Tagsüber Unterricht: Kontakte mit deutschen Kindern und Lehrkräften.
“Sie waren, Frau Kuper, selber Lehrerin hier in dieser Schule und haben Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre erlebt, wie junge Vietnamesen – kriegsbehinderte hier zur Schule gingen?“
“Ja, das haben wir erlebt. Wir haben sie rein äußerlich erlebt im Unterricht, wie sie sich so langsam eingelebt haben. Am meisten Eindruck haben sie auf mich gemacht mit ihren Wunden, wenn Schwimmunterricht war. Dann – wenn man diese von Napalmbomben zerfetzten Körper, die so langsam wieder abheilten, sah – ich muss sagen, das kann ich bis heute nicht vergessen.“
Ein Bild zeigt, wie der Junge auf das deutsche Hospitalschiff „Helgoland“ eingeliefert wurde, aufgesammelt aus einem Haufen Toter und Verwundeter, Opfer von Granatsplittern. Die Lazarett-Akte – Patient Nr. 10.440 – Vo Suong, 14 Jahre. Eingewiesen am 4.Januar 68 um 13.30 Uhr.
Das erste Bild von diesem Gesicht machte der Fotojournalist Hilmar Pabel. Die Aufnahme wurde ausgewählt für die 3. Weltausstellung der Fotografie, Bild Nr. 176. Vo Suong hat den Katalog nie gesehen.
„Vo, woran erinnerst du dich in Bremen?“
„Im Krankenhaus.“
„Du bist im Krankenhaus gewesen?“
„Ja.“
„Wann?“
„1968.“
„1968 bis? Wie lange?“
„Bis 1973 zurück nach Vietnam.“
„Du hattest dort Kontakt zu deutschen Familien?“
„Ja – ungefähr alle sechs oder sieben Monate ein Brief von meinem Vater nach Vietnam geschrieben.“
„Dein Vater ist ein Pflegevater, ein Deutscher in Bremen?“
„Ja, er heißt Dr. Heinrichs – und jede Monat, oder jede drei Monate ich schreibe zu ihm in Bremen.“
„Herr Dr. Heinrichs, wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, und wie hat sich das dann verwirklicht, dass Sie einen jungen, verletzten Vietnamesen bei Ihnen hier in Fischerhude aufgenommen haben? Wie ist der Kontakt entstanden?“
„Das hat so begonnen, bei einem Mittagessen hier an dem Tisch, wo also unsere Kindern zusammen waren – das war 1967 oder 68 – las ich aus der Zeitung von einem Bombenangriff in Vietnam einen Bericht vor. Und die Schilderung der Folgen dieses Bombenangriffes löste solche Erschütterung eigentlich aus, dass mein zweiter Sohn, Tobias, ganz unvermittelt sagte, wir müssen eines von den Kindern hierher holen. Und wir haben dann wieder durch eine Pressenotiz, in der ich las, dass ein Doktor Merkle aus Stuttgart in Vietnam gewesen war – und diesen Doktor Merkle hab ich dann angeschrieben. Und es stellte sich dann heraus, dass er in der Tat dort gewesen war, er hatte das Lazarettschiff Helgoland – man hat das schon vergessen, dass es damals dieses Schiff gegeben hatte im Hafen von Da Nang – er hatte also dieses Lazarettschiff besucht, und in Verbindung mit diesem Doktor Merkle bekamen wir diese Fotografie von dem Jungen. Er war der erste Junge aus Vietnam mit derartigen Verletzungen, der nach Deutschland kam.“
„Sein verletztes Gesicht, hat ihm selbst das Probleme gemacht – hat Ihnen das auch Probleme gemacht und den Kontakt mit anderen Leuten erschwert? Erinnern Sie sich daran?“
Frau Heinrichs: „Ja, ihm hat es große Beschwerden gemacht, glaube ich. Er mochte sich nicht gerne zeigen. Auch später, wenn er bei uns zu Besuch war, hat er es erst nicht gern gehabt, wenn andere Menschen zu Besuch kamen. Und wir haben es auch erfahren, wenn Freunde kamen und so plötzlich konfrontiert wurden damit, dass sie richtig zurückschreckten.“
„Und er selbst hat auch darunter gelitten?“
Dr. Heinrichs: „Er hat sehr darunter gelitten, er war die ersten Monate, um nicht zu sagen die ersten zwei Jahre außerordentlich scheu und verhalten. Er war nicht zu bewegen, von sich aus hier weiter herumzugehen – nur mit unseren Kindern in Begleitung nahm er Verbindung auf mit anderen. Und er war sehr scheu vor allem auch beim Essen, das ja eine außerordentliche Schwierigkeit in den ersten Monaten war – eigentlich konnte er gar nicht essen. Er war ja mit diesen Verletzungen – und deswegen hatte man ja ihn auch hierher geschickt – nicht mehr lebensfähig.“
Im Zentralkrankenhaus St. Jürgen in Bremen ist Vo Suong von dem inzwischen verstorbenen Kieferchirurgen Professor Beck dreiundzwanzigmal operiert worden. Als Assistenzarzt dabei – Dr. Klaus Stein:
„Das Problem war damals, ihm klarzumachen, was wir überhaupt mit ihm vorhatten, in welcher Form wir nun diese Verletzungen, die wir da versorgen wollten, nun ausheilen wollen. Als er dann gemerkt hat, dass nun doch in zunehmendem Maße der Defekt, der ihn ja nicht nur sehr entstellte, sondern auch funktionell bei der Nahrungsaufnahme ganz wesentlich behindert hat, langsam geschlossen wurde, dass er eben praktisch wieder ein normaler Mensch wurde, dann war das doch zunehmend so, dass wir Vertrauen hatten zueinander. Hinzu kam dann natürlich die zunehmende Möglichkeit der sprachlichen Verständigung.“
Für Vo Suong das Ende eine quälend langen Zeit der Rehabilitation.
Die Vorbereitung auf die Rückkehr nach Vietnam beginnt in Vechta, angeleitet durch eine Krankenschwester und eine Pädagogin aus Vietnam. „Terr des hommes“ hatte hier seit Anfang 1969 jene vietnamesischen Kinder zusammengeführt, die die Krankenhäuser verlassen konnten. An den Alltag kann sich im Johannisstift nur noch die Schneiderin Änne Kröger erinnern:
„Wie sind die denn dann so klargekommen mit dem Essen?“ „Ah, das war schön. Die haben hier in der Küche mittags ihr Essen gekriegt, nicht, und nun mochten die ja natürlich nicht so gern das deutsche Essen, verstehen Sie? Und dann abends kochten die für sich.“„Sie selbst?“ „Sie selbst – mit der Fräulein Brunner, mit der Erzieherin.“ „Haben Sie das auch mal probiert?“ „Ah – ich wurde immer freitags wunderbar eingeladen – da hatte wir die Nähstube noch vorn im Büro, und dann kamen sie: Frau Kröger, das Essen ist fertig. Und dann hab ich ja gelernt, Reis mit Maggi, nicht? Die brauchten jede Woche diese Riesenflasche Maggi.“ „Zu Hause nehmen sie ja Sojasoße dafür.“„Ja und darum heute, ich muß nur über Reis Maggi haben.“
Über Reis immer Maggi haben – eine liebenwerte Gewohnheit ist geblieben. Kleine Anekdoten erinnern an die Vietnam-Kinder – sonst sind im Johannisstift in Vechta fast alle Spuren verwischt. Ein Bild haben wir noch gefunden, das Vo Suong an dem Tag zeigt, an dem er seine Koffer packte.
Frau Kuper erinnert sich:
„Die Kinder wollten bleiben, bis der Krieg aus war. Das hatten sie uns immer gesagt, und dann habe ich mit vielen Leuten gesprochen, die in der Nähe des Johannisstiftes wohnten, oder im Johannisstift beschäftigt waren, und die hatten die Schreie der Kinder immer noch in den Ohren, als die in die Busse geladen wurden und zurück mussten. Es hieß, die Regierung hatte verlangt, wenn ihr jetzt nicht zurückkommt, könnt ihr nie zurückkommen.“
Abschied nehmen von den Pflegeeltern, vom Zuhause in Fischerhude. Dr. Heinrichs erinnert sich:
„Er wäre, so war damals unsere Beurteilung, eigentlich doch irgendwo immer ein Fremdling geblieben. Diese Überlegung war wohl ausschlaggebend.“
„Ist Ihnen das leicht gefallen? Ist ihm das leicht gefallen?“
„Das ist uns so schwer gefallen, es war ein entsetzlicher Abschied!“
Der Abflug nach Saigon: Auch Vo Suong hatte sich nur widerstrebend mit der Rückkehr abgefunden, Rückkehr in ein Land, in dem noch Krieg war.
Thu Duc – fünfzehn Kilometer von Saigon entfernt. Im Frühjahr 1973 traf hier ein „Terre des hommes“-Team Vo Suong in den Werkstätten einer Jugendstrafanstalt! Nur weil westdeutsche Ausbilder hier arbeiteten, musste Vo Suong unter Straffälligen leben. Ein neues Zuhause fand Vo Suong erst zwei Jahre nach Ende des Krieges.
1977 heiratete er, die Tochter ist jetzt zwei Jahre alt. Das Gesicht ist immer noch nicht ganz ausgeheilt, zwei Operationen am Mund waren in diesem Jahr nötig. Vo Suong lebt zusammen mit Le Van To im alten „Terre des hommes“-Zentrum.
Auch To ist verheiratet, sein Sohn ist etwas mehr als ein Jahr alt. Die Familien haben je einen kleinen Wohnraum und eine gemeinsame Küche im Freien unter einem alten Mangobaum. Viele Zutaten zu den Mahlzeiten kommen aus einem kleinen Garten und einem Schweinestall auf dem Grundstück. In der überfüllten Stadt fast eine Idylle.
Mit in diesem Quartier und ebenso bescheiden wohnt die Chefin, Dr. Mai Xuan, eine Ärztin aus Saigon, in den Jahren des Krieges bei den Truppen der Befreiungsfront. Jetzt hat sie im Auftrag des Sozialministeriums in Hanoi die Leitung des von „Terre des hommes“ finanzierten Heims für unterernährte Waisenkinder übernommen.
Ebenso wie To hat auch Vo Suong seine Frau hier kennengelernt, beide Frauen sind als ausgebildete Kinderschwestern in diesem Heim angestellt. 135 Fachkräfte versorgen 250 Säugline und Kleinkinder.
Ein Foto zeigt das Mädchen Nguyen Thi Be zu, geboren 1978, aufgenommen am 31. März 1980. Damals wog die Kleine 6 Kilo, einen Monat später hatte sie schon 2 Kilo zugenommen.
Hochgepäppelt werden gesundheitlich gefährdete Kleinstkinder, die in den unzureichend ausgestatteten Waisenhäusern des Südens nicht die notwendige medizinische Versorgung finden können. Außerdem werden Babies aufgenommen, die von ihren Müttern nach der Geburt in den Krankenhäusern zurückgelassen wurden.
Die Hilflosesten und Schwächsten einer mit Kriegsfolgen und Unterentwicklung kämpfenden Gesellschaft erhalten hier dank Spendenhilfe aus der Bundesrepublik eine gewissenhafte Pflege und damit auch wieder eine Lebenschance. Mitversorgt werden von Dr. Mai Xuan querschnittgelähme Jugendliche, in einer Baracke noch provisorisch untergebracht. Für Kriegsopfer, die aufgrund ihrer Verletzungen einer dauerhaften Behandlung bedürfen, besitzt Vietnam nur geringfügige Mittel und Möglichkeiten. Die Menschen hier haben gelernt, zu improvisieren. Die Baracke ist auch für einige Jugendliche ein neues Zuhause geworden, die in den Siebziger Jahren als „Terre des hommes“-Kinder in Bad Oeyenhausen an der Weser behandelt wurden. Sie warten wie viele andere Versehrten in dieser Stadt darauf, dass ein neues Rehabilitationszentrum fertiggestellt wird, das „Terre des hommes“ / Deutschland als Musterprojekt für ganz Vietnam geplant hat und finanziert. Die Arbeiten auf der Baustelle brauchen Zeit. Fast alles geht mühselig mit der Hand. Und der Nachschub der Baustoffe aus Hong Kong ist langwierig und kostspielig.
Das vietnamesische Sozialministerium ist nicht untätig geblieben. Es unterhält in Ho Chi Minh-Stadt ein eigenes Zentrum für Querschnittgelähmte, das aber den vielen Hilfsbedürftigen nicht gerecht werden kann. Aufgefallen ist uns, wieviel Mühe aufgewendet wird, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein gelassen sind.
So gut es die orthopädischen Werkstätten in diesem Zentrum schaffen, werden Amputierte und Gelähmte mit Prothesen und mit Stützapparaten versorgt. Die Warteliste ist lang. Wer nach Jahren quälender Behinderung wieder gehen und sich bewegen kann, ist schon privilegiert. Für die Herstellung von Prothesen und Schienen fehlt es in Vietnam anfast allen Voraussetzungen, über die die entwickelten Industriestaaten verfügen. Plastik und spezielle Metall-Legierungen müssten importiert werden. Aber sie sind zu teuer. So wird fast ausschließlich Holz und Leder verarbeitet.
In der Werkstatt für orthopädisches Schuhwerk treffen wir überraschen einen weiteren jungen Vietnamesen, dessen Arbeit hier durch eine Ausbildung in der Bundesrepublik möglich wurde. Em Cam ist taubstumm. Eine Kriegsverletzung an den Beinen wurde von deutschen Ärzten geheilt. Als Em Cam aufgeschrieben wird, woher wir kommen, strahlt er, und dann zeigt er unsein Papier, das er noch immer bei sich trägt:
„Bei entsprechender Unterstützung ... wird es Em Cam gelingen, ein qualifizierter Orthopädie-Schumacher zu werden ...“
Das hat ihm 1973 Hermann Drake in Mönchen-Gladbach bescheinigt. Hermann Drake erinnert sich:
„Wir sind dann die Sache so angegangen, wie es sich halt im Betrieb machen ließ, und wir hatten den großen Vorteil, dieser Junge gab seine Fähigkeiten so, seine Auffassungsgabe war sehr hoch, so dass wir im Grunde genommen nicht allzu viel dazu tun mussten. Wir haben dann wohl im späteren Ausbildungsbereich ihn etwas stärker auf die Bedürfnisse, die eventuell auf ihn zukommen könnten, ausgebildet und ausgerichtet. Wir haben also – wie gesagt – anfangs nicht verstanden, daß die Kinder wieder zurückmussten, haben aber dann im Nachhinein es für sehr gut empfunden, dass die Kinder hier nur eine Rehabilitationszeit durchgemacht haben. Und er hat zwar sehr schwermütig den Abschied hier genommen – unsere Sorge war dabei sicherlich, dass wir sagte, Vietnam ist also noch sehr stark kriegsmäßig aktiv, so dass also wir im Grunde genommen wieder nur ein Kanonenfutter dahin bringen, das wir ausgebildet haben.“
Fünf Jahre lang hat Em Cam mit fünfzig anderen vietnamesischen Kindern hier gelebt, „Friedensdorf Mönchen-Gladbach“ hieß das damals. Initiator war Helmut Göbels:
„An Em Cam erinnere ich mich nicht nur sehr lebhaft, sondern auch sehr gerne – sehr lebhaft, weil er zu den Kindern zählt, die von Anfang an – also von 1969 bis 1973 – hier waren, außerdem eben sehr gerne, weil sich in der Zeit der Betreuung immer wieder herausgestellt hat, dass Em Cam von besonders freundlichem und liebenswertem Wesen war.“
Zwei Monate sind wir zurück aus Vietnam, da trifft ein Brief ein – Em Cam hat geheiratet.
Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Zur Empathie gehört auch die Reaktion auf die Gefühle Anderer wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung; je offener man für seine eigenen Emotionen ist, desto besser kann man die Gefühle anderer deuten. Empathie spielt somit nicht nur in Bezug auf andere Menschen eine Rolle, sondern ist auch unter dem Aspekt der Selbstempathie bedeutsam. de.wikipedia.org/wiki/Empathie
Texte aus meinem Buch: „WIE ICH LERNTE, DIE WELT IM RADIO ZU ERKLÄREN“
Kellner-Verlag, Bremen, ISBN 978-3-95651-265-0
Filmarbeit in Vietnam und in Deutschland mit Freund Michael Geyer
http://www.radiobridge.net/videos/schoenewolke.MPG
Fotos:
© KJS / TdH / Wikipedia
Info:
https://www.kellnerverlag.de/wie-ich-lernte-die-welt-im-radio-zu-erklaren.html
"Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all..."
Während Christen in aller Welt schon jetzt die Ankunft des Jesus-Kindleins lobpreisen, erinnere ich mich an meine erste Erfahrung mit Bomben, Napalm, Granaten, Bodenminen, Gift, die im Auftrag eines "christlichen" Staates des Westens Kinder in einem nicht-christlichen Land des Ostens vernichteten – Weihnachtsfeiertage nicht ausgenommen.
Der Krieg in Vietnam war noch nicht zu Ende, als ich mich als junger Reporter Anfang 1973 über das Schicksal kriegsverletzter Kinder in Vietnam informierte, um die sich die deutsche Hilfsorganisation "Terre des Hommes" kümmerte.
Dies ist meine "Weihnachtsgeschichte" – Erfahrungen in Vietnam und in Deutschland, zusammen mit dem Freund und Kollegen Michael Geyer.
Auf dem Hof der Fernsehstation von Ho Chi Minh-Stadt stehen zwei graue Übertragungswagen, die ich im Frühjahr 1980 sofort wiedererkenne: Vor zehn Jahren habe ich zusammen mit vielen Kollegen von Presse und Funk dafür gespendet, dass diese beiden in der Bundesrepublik ausrangierten, dann technisch überholten Schwarz-Weiß-TV-Mobile nach Nordvietnam geschickt werden konnten – ein Akt der Solidarität mit den vietnamesischen Kollegen damals.
Zehn Jahre später wäre ohne die Solidarität vietnamesischer Fernsehkollegen unser Film nicht zustande gekommen: Schon am zweiten Tag unseres Vietnam-Aufenthaltes sind wir in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Der klapprige VW-Bus des „Terres des hommes“-Zentrums war auf dem Weg von Ho Chi Minh-Stadt nach Vung Tau bei einem Ausweichmanöver mit einem Militär-LKW zusammengestoßen. Weil wir dicht gedrängt saßen, gab es nur Platzwunden und Prellungen, aber unsere Filmkamera war zerbrochen.
Das Fernsehstudio half uns aus – mit einer Kamera und mit einem Kameramann. Und als wir nach Rückkehr bei Radio Bremen feststellten, dass eine Filmrolle mit wichtigen Porträtaufnahmen fehlerhaft war, genügte ein Telegramm nach Ho Chi Minh-Stadt, wenige Wochen später erhielten wir Filmmaterial, das der Kollege Vo Cuong nachgedreht hatte – Großaufnahmen von zwei jungen Vietnamesen, die als Kinder schwerverwundet in Bremen waren.
Eine Hand, die wieder arbeiten kann. Verstümmelt durch eine Granate, mit der die Kinderhand spielte ... vor dreizehn Jahren in einem Dorf im Mekong-Delta in Vietnam. Jetzt kann die Hand wieder fühlen, greifen, arbeiten. “Schöne Wolke” nannten Helfer von “Terre des hommes” die Luftbrücke, die Le Van To in eine deutsche Stadt verschlug, nach Bremen.
“To, woran erinnerst du dich in Bremen?”
“Ich erinnere mich in Bremen an das Krankenhaus. Ich erinnere mich an den Doktor, die Schwestern.”
“Wann warst du in Bremen?”
“Das war 1969-1970.“
“Hast du da auch ‘mal einen Winter erlebt?”
“Ja – schönen Schnee.“
Als To in Bremen, war, hieß diese Stadt noch Saigon. Jetzt sagen sie Ho Chi Minh-Stadt, geblieben sind die Spuren von dreißig Jahren Krieg und sozialer Zerrüttung. Fünf Jahre haben nicht ausgereicht, mit allen Auswüchsen der alten Verhältnisse fertigzuwerden. Es gibt noch einen florierenden Schwarzmarkt, es gibt illegale Prostitution und arbeitslose Jugendliche.
Aus dieser Stadt stammen die meisten Menschen, die als boat-people aufs Meer gehen, als Flüchtlinge, in der Hoffnung, irgendwo wiederzufinden, was die Dollar-Schwemme möglich machte in der Zeit des Krieges.
Keine Chance wegzugehen haben die unmittelbaren Opfer dieses Krieges – Waisenkinder, Krüppel.
Wie geht das neue Regime mit diesen Schwächsten der Gesellschaft um? Das wollten wir – fünf Jahre nach Kriegsende – im früheren Saigon erkunden – und trafen ihn: Le Van To – und seinen Freund Vo Suong, die beiden Jungen, die in Bremen waren. Wir haben ihre Spur zurückverfolgt und ein Foto gefunden, das Vo Suong und To zusammen zeigt, 1971 beim Besuch eines südvietnamesischen Ministers im Evangelischen Johannisstift in Vechta – eine der Stationen für kriegsverletzte Kinder aus Vietnam.
Fragen an den damaligen Vorsitzenden von “Terre des hommes” / Deutschland, Dr. Christian Kingreen:
“Herr Dr. Kingreen, warum haben Sie damals die Kinder eigentlich rausgeholt aus Vietnam, statt sie da zu versorgen?”
“Weil wir den Eindruck hatten, dass die Kinder in Vietnam nicht ausreichend versorgt werden konnten, dass es besonders für schwerkranke Kinder in Vietnam, besonders auch in Saigon, eben keine Möglichkeiten der medizinischen Behandlung gab.”
Fernsehbilder von damals: Die “Aktion Schöne Wolke” brachte bundesdeutsche Bürger zum ersten Mal direkt mit Opfern des Vietnamkrieges in Berührung.
Gisela Arndt – damals Mitarbeiterin von „Terre des hommes“ – erinnert sich:
“Die Kinder kamen in Decken eingewickelt aus dem Flugzeug, wurden sofort in zwei Krankenhäuser gebracht und dann erstmal ausgewickelt – Sachen gewaschen, entlaust, gekämmt. Sie kamen an wie eben Kinder aus dem Krieg kommen. Sie kamen stumm und taub – kann man ja sagen, nicht? – zu uns. Sie waren auch erstarrt. Die Kälte war es nicht, denn in dem Kinderkrankenhaus war eine gleichmäßige Temperatur, aber sie wirkten trotzdem wie in der Kälte erstarrt. Und wir versuchten, sie aufzuwärmen – eben mit diesen leisen Berührungen. Man durfte auch nicht sie überfallen – das wäre schlimm gewesen. Es fing so an – zuerst war eine Totenstille im Saal, wo die siebzehn Kinder lagen. Sie konnten kommen, wann sie wollten – es war leise. Und nach drei Wochen war so ein zwitscherndes Geräusch – sie kennen ja die vietnamesische Sprache wahrscheinlich – dieses Zwitschern, das erfüllte den ganzen Raum.“
Zeichnungen der Kinder aus den ersten Wochen: Erinnerung an die Heimat spiegelt das Erlebnis des Krieges wider. Der Himmel gehört nicht den Vögeln, sondern Bombern aus Amerika. In späteren Zeichnungen – so berichten Betreuer – werden die Symbole des Krieges, Flugzeuge und Panzer, seltener. Neue Eindrücke in einem ganz und gar fremden Land nehmen die Kinder voll in Anspruch.
Erstes Weihnachtsfest für To 1970 in Vechta. Die Zeitung schreibt:
“Sie bewahren unter ihren wenigen Habseligkeiten ein Konterfei Buddhas auf und sind begeisterte Anhänger der Beatles ... Doch wenn sie abends nach der gewohnten Fernsehstunde im Bett liegen, dann schleicht sich das Heimweh bei ihnen ein.”
Tagsüber Unterricht: Kontakte mit deutschen Kindern und Lehrkräften.
“Sie waren, Frau Kuper, selber Lehrerin hier in dieser Schule und haben Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre erlebt, wie junge Vietnamesen – kriegsbehinderte hier zur Schule gingen?“
“Ja, das haben wir erlebt. Wir haben sie rein äußerlich erlebt im Unterricht, wie sie sich so langsam eingelebt haben. Am meisten Eindruck haben sie auf mich gemacht mit ihren Wunden, wenn Schwimmunterricht war. Dann – wenn man diese von Napalmbomben zerfetzten Körper, die so langsam wieder abheilten, sah – ich muss sagen, das kann ich bis heute nicht vergessen.“
Ein Bild zeigt, wie der Junge auf das deutsche Hospitalschiff „Helgoland“ eingeliefert wurde, aufgesammelt aus einem Haufen Toter und Verwundeter, Opfer von Granatsplittern. Die Lazarett-Akte – Patient Nr. 10.440 – Vo Suong, 14 Jahre. Eingewiesen am 4.Januar 68 um 13.30 Uhr.
Das erste Bild von diesem Gesicht machte der Fotojournalist Hilmar Pabel. Die Aufnahme wurde ausgewählt für die 3. Weltausstellung der Fotografie, Bild Nr. 176. Vo Suong hat den Katalog nie gesehen.
„Vo, woran erinnerst du dich in Bremen?“
„Im Krankenhaus.“
„Du bist im Krankenhaus gewesen?“
„Ja.“
„Wann?“
„1968.“
„1968 bis? Wie lange?“
„Bis 1973 zurück nach Vietnam.“
„Du hattest dort Kontakt zu deutschen Familien?“
„Ja – ungefähr alle sechs oder sieben Monate ein Brief von meinem Vater nach Vietnam geschrieben.“
„Dein Vater ist ein Pflegevater, ein Deutscher in Bremen?“
„Ja, er heißt Dr. Heinrichs – und jede Monat, oder jede drei Monate ich schreibe zu ihm in Bremen.“
„Herr Dr. Heinrichs, wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, und wie hat sich das dann verwirklicht, dass Sie einen jungen, verletzten Vietnamesen bei Ihnen hier in Fischerhude aufgenommen haben? Wie ist der Kontakt entstanden?“
„Das hat so begonnen, bei einem Mittagessen hier an dem Tisch, wo also unsere Kindern zusammen waren – das war 1967 oder 68 – las ich aus der Zeitung von einem Bombenangriff in Vietnam einen Bericht vor. Und die Schilderung der Folgen dieses Bombenangriffes löste solche Erschütterung eigentlich aus, dass mein zweiter Sohn, Tobias, ganz unvermittelt sagte, wir müssen eines von den Kindern hierher holen. Und wir haben dann wieder durch eine Pressenotiz, in der ich las, dass ein Doktor Merkle aus Stuttgart in Vietnam gewesen war – und diesen Doktor Merkle hab ich dann angeschrieben. Und es stellte sich dann heraus, dass er in der Tat dort gewesen war, er hatte das Lazarettschiff Helgoland – man hat das schon vergessen, dass es damals dieses Schiff gegeben hatte im Hafen von Da Nang – er hatte also dieses Lazarettschiff besucht, und in Verbindung mit diesem Doktor Merkle bekamen wir diese Fotografie von dem Jungen. Er war der erste Junge aus Vietnam mit derartigen Verletzungen, der nach Deutschland kam.“
„Sein verletztes Gesicht, hat ihm selbst das Probleme gemacht – hat Ihnen das auch Probleme gemacht und den Kontakt mit anderen Leuten erschwert? Erinnern Sie sich daran?“
Frau Heinrichs: „Ja, ihm hat es große Beschwerden gemacht, glaube ich. Er mochte sich nicht gerne zeigen. Auch später, wenn er bei uns zu Besuch war, hat er es erst nicht gern gehabt, wenn andere Menschen zu Besuch kamen. Und wir haben es auch erfahren, wenn Freunde kamen und so plötzlich konfrontiert wurden damit, dass sie richtig zurückschreckten.“
„Und er selbst hat auch darunter gelitten?“
Dr. Heinrichs: „Er hat sehr darunter gelitten, er war die ersten Monate, um nicht zu sagen die ersten zwei Jahre außerordentlich scheu und verhalten. Er war nicht zu bewegen, von sich aus hier weiter herumzugehen – nur mit unseren Kindern in Begleitung nahm er Verbindung auf mit anderen. Und er war sehr scheu vor allem auch beim Essen, das ja eine außerordentliche Schwierigkeit in den ersten Monaten war – eigentlich konnte er gar nicht essen. Er war ja mit diesen Verletzungen – und deswegen hatte man ja ihn auch hierher geschickt – nicht mehr lebensfähig.“
Im Zentralkrankenhaus St. Jürgen in Bremen ist Vo Suong von dem inzwischen verstorbenen Kieferchirurgen Professor Beck dreiundzwanzigmal operiert worden. Als Assistenzarzt dabei – Dr. Klaus Stein:
„Das Problem war damals, ihm klarzumachen, was wir überhaupt mit ihm vorhatten, in welcher Form wir nun diese Verletzungen, die wir da versorgen wollten, nun ausheilen wollen. Als er dann gemerkt hat, dass nun doch in zunehmendem Maße der Defekt, der ihn ja nicht nur sehr entstellte, sondern auch funktionell bei der Nahrungsaufnahme ganz wesentlich behindert hat, langsam geschlossen wurde, dass er eben praktisch wieder ein normaler Mensch wurde, dann war das doch zunehmend so, dass wir Vertrauen hatten zueinander. Hinzu kam dann natürlich die zunehmende Möglichkeit der sprachlichen Verständigung.“
Für Vo Suong das Ende eine quälend langen Zeit der Rehabilitation.
Die Vorbereitung auf die Rückkehr nach Vietnam beginnt in Vechta, angeleitet durch eine Krankenschwester und eine Pädagogin aus Vietnam. „Terr des hommes“ hatte hier seit Anfang 1969 jene vietnamesischen Kinder zusammengeführt, die die Krankenhäuser verlassen konnten. An den Alltag kann sich im Johannisstift nur noch die Schneiderin Änne Kröger erinnern:
„Wie sind die denn dann so klargekommen mit dem Essen?“ „Ah, das war schön. Die haben hier in der Küche mittags ihr Essen gekriegt, nicht, und nun mochten die ja natürlich nicht so gern das deutsche Essen, verstehen Sie? Und dann abends kochten die für sich.“„Sie selbst?“ „Sie selbst – mit der Fräulein Brunner, mit der Erzieherin.“ „Haben Sie das auch mal probiert?“ „Ah – ich wurde immer freitags wunderbar eingeladen – da hatte wir die Nähstube noch vorn im Büro, und dann kamen sie: Frau Kröger, das Essen ist fertig. Und dann hab ich ja gelernt, Reis mit Maggi, nicht? Die brauchten jede Woche diese Riesenflasche Maggi.“ „Zu Hause nehmen sie ja Sojasoße dafür.“„Ja und darum heute, ich muß nur über Reis Maggi haben.“
Über Reis immer Maggi haben – eine liebenwerte Gewohnheit ist geblieben. Kleine Anekdoten erinnern an die Vietnam-Kinder – sonst sind im Johannisstift in Vechta fast alle Spuren verwischt. Ein Bild haben wir noch gefunden, das Vo Suong an dem Tag zeigt, an dem er seine Koffer packte.
Frau Kuper erinnert sich:
„Die Kinder wollten bleiben, bis der Krieg aus war. Das hatten sie uns immer gesagt, und dann habe ich mit vielen Leuten gesprochen, die in der Nähe des Johannisstiftes wohnten, oder im Johannisstift beschäftigt waren, und die hatten die Schreie der Kinder immer noch in den Ohren, als die in die Busse geladen wurden und zurück mussten. Es hieß, die Regierung hatte verlangt, wenn ihr jetzt nicht zurückkommt, könnt ihr nie zurückkommen.“
Abschied nehmen von den Pflegeeltern, vom Zuhause in Fischerhude. Dr. Heinrichs erinnert sich:
„Er wäre, so war damals unsere Beurteilung, eigentlich doch irgendwo immer ein Fremdling geblieben. Diese Überlegung war wohl ausschlaggebend.“
„Ist Ihnen das leicht gefallen? Ist ihm das leicht gefallen?“
„Das ist uns so schwer gefallen, es war ein entsetzlicher Abschied!“
Der Abflug nach Saigon: Auch Vo Suong hatte sich nur widerstrebend mit der Rückkehr abgefunden, Rückkehr in ein Land, in dem noch Krieg war.
Thu Duc – fünfzehn Kilometer von Saigon entfernt. Im Frühjahr 1973 traf hier ein „Terre des hommes“-Team Vo Suong in den Werkstätten einer Jugendstrafanstalt! Nur weil westdeutsche Ausbilder hier arbeiteten, musste Vo Suong unter Straffälligen leben. Ein neues Zuhause fand Vo Suong erst zwei Jahre nach Ende des Krieges.
1977 heiratete er, die Tochter ist jetzt zwei Jahre alt. Das Gesicht ist immer noch nicht ganz ausgeheilt, zwei Operationen am Mund waren in diesem Jahr nötig. Vo Suong lebt zusammen mit Le Van To im alten „Terre des hommes“-Zentrum.
Auch To ist verheiratet, sein Sohn ist etwas mehr als ein Jahr alt. Die Familien haben je einen kleinen Wohnraum und eine gemeinsame Küche im Freien unter einem alten Mangobaum. Viele Zutaten zu den Mahlzeiten kommen aus einem kleinen Garten und einem Schweinestall auf dem Grundstück. In der überfüllten Stadt fast eine Idylle.
Mit in diesem Quartier und ebenso bescheiden wohnt die Chefin, Dr. Mai Xuan, eine Ärztin aus Saigon, in den Jahren des Krieges bei den Truppen der Befreiungsfront. Jetzt hat sie im Auftrag des Sozialministeriums in Hanoi die Leitung des von „Terre des hommes“ finanzierten Heims für unterernährte Waisenkinder übernommen.
Ebenso wie To hat auch Vo Suong seine Frau hier kennengelernt, beide Frauen sind als ausgebildete Kinderschwestern in diesem Heim angestellt. 135 Fachkräfte versorgen 250 Säugline und Kleinkinder.
Ein Foto zeigt das Mädchen Nguyen Thi Be zu, geboren 1978, aufgenommen am 31. März 1980. Damals wog die Kleine 6 Kilo, einen Monat später hatte sie schon 2 Kilo zugenommen.
Hochgepäppelt werden gesundheitlich gefährdete Kleinstkinder, die in den unzureichend ausgestatteten Waisenhäusern des Südens nicht die notwendige medizinische Versorgung finden können. Außerdem werden Babies aufgenommen, die von ihren Müttern nach der Geburt in den Krankenhäusern zurückgelassen wurden.
Die Hilflosesten und Schwächsten einer mit Kriegsfolgen und Unterentwicklung kämpfenden Gesellschaft erhalten hier dank Spendenhilfe aus der Bundesrepublik eine gewissenhafte Pflege und damit auch wieder eine Lebenschance. Mitversorgt werden von Dr. Mai Xuan querschnittgelähme Jugendliche, in einer Baracke noch provisorisch untergebracht. Für Kriegsopfer, die aufgrund ihrer Verletzungen einer dauerhaften Behandlung bedürfen, besitzt Vietnam nur geringfügige Mittel und Möglichkeiten. Die Menschen hier haben gelernt, zu improvisieren. Die Baracke ist auch für einige Jugendliche ein neues Zuhause geworden, die in den Siebziger Jahren als „Terre des hommes“-Kinder in Bad Oeyenhausen an der Weser behandelt wurden. Sie warten wie viele andere Versehrten in dieser Stadt darauf, dass ein neues Rehabilitationszentrum fertiggestellt wird, das „Terre des hommes“ / Deutschland als Musterprojekt für ganz Vietnam geplant hat und finanziert. Die Arbeiten auf der Baustelle brauchen Zeit. Fast alles geht mühselig mit der Hand. Und der Nachschub der Baustoffe aus Hong Kong ist langwierig und kostspielig.
Das vietnamesische Sozialministerium ist nicht untätig geblieben. Es unterhält in Ho Chi Minh-Stadt ein eigenes Zentrum für Querschnittgelähmte, das aber den vielen Hilfsbedürftigen nicht gerecht werden kann. Aufgefallen ist uns, wieviel Mühe aufgewendet wird, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein gelassen sind.
So gut es die orthopädischen Werkstätten in diesem Zentrum schaffen, werden Amputierte und Gelähmte mit Prothesen und mit Stützapparaten versorgt. Die Warteliste ist lang. Wer nach Jahren quälender Behinderung wieder gehen und sich bewegen kann, ist schon privilegiert. Für die Herstellung von Prothesen und Schienen fehlt es in Vietnam anfast allen Voraussetzungen, über die die entwickelten Industriestaaten verfügen. Plastik und spezielle Metall-Legierungen müssten importiert werden. Aber sie sind zu teuer. So wird fast ausschließlich Holz und Leder verarbeitet.
In der Werkstatt für orthopädisches Schuhwerk treffen wir überraschen einen weiteren jungen Vietnamesen, dessen Arbeit hier durch eine Ausbildung in der Bundesrepublik möglich wurde. Em Cam ist taubstumm. Eine Kriegsverletzung an den Beinen wurde von deutschen Ärzten geheilt. Als Em Cam aufgeschrieben wird, woher wir kommen, strahlt er, und dann zeigt er unsein Papier, das er noch immer bei sich trägt:
„Bei entsprechender Unterstützung ... wird es Em Cam gelingen, ein qualifizierter Orthopädie-Schumacher zu werden ...“
Das hat ihm 1973 Hermann Drake in Mönchen-Gladbach bescheinigt. Hermann Drake erinnert sich:
„Wir sind dann die Sache so angegangen, wie es sich halt im Betrieb machen ließ, und wir hatten den großen Vorteil, dieser Junge gab seine Fähigkeiten so, seine Auffassungsgabe war sehr hoch, so dass wir im Grunde genommen nicht allzu viel dazu tun mussten. Wir haben dann wohl im späteren Ausbildungsbereich ihn etwas stärker auf die Bedürfnisse, die eventuell auf ihn zukommen könnten, ausgebildet und ausgerichtet. Wir haben also – wie gesagt – anfangs nicht verstanden, daß die Kinder wieder zurückmussten, haben aber dann im Nachhinein es für sehr gut empfunden, dass die Kinder hier nur eine Rehabilitationszeit durchgemacht haben. Und er hat zwar sehr schwermütig den Abschied hier genommen – unsere Sorge war dabei sicherlich, dass wir sagte, Vietnam ist also noch sehr stark kriegsmäßig aktiv, so dass also wir im Grunde genommen wieder nur ein Kanonenfutter dahin bringen, das wir ausgebildet haben.“
Fünf Jahre lang hat Em Cam mit fünfzig anderen vietnamesischen Kindern hier gelebt, „Friedensdorf Mönchen-Gladbach“ hieß das damals. Initiator war Helmut Göbels:
„An Em Cam erinnere ich mich nicht nur sehr lebhaft, sondern auch sehr gerne – sehr lebhaft, weil er zu den Kindern zählt, die von Anfang an – also von 1969 bis 1973 – hier waren, außerdem eben sehr gerne, weil sich in der Zeit der Betreuung immer wieder herausgestellt hat, dass Em Cam von besonders freundlichem und liebenswertem Wesen war.“
Zwei Monate sind wir zurück aus Vietnam, da trifft ein Brief ein – Em Cam hat geheiratet.
Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Zur Empathie gehört auch die Reaktion auf die Gefühle Anderer wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung; je offener man für seine eigenen Emotionen ist, desto besser kann man die Gefühle anderer deuten. Empathie spielt somit nicht nur in Bezug auf andere Menschen eine Rolle, sondern ist auch unter dem Aspekt der Selbstempathie bedeutsam. de.wikipedia.org/wiki/Empathie
Texte aus meinem Buch: „WIE ICH LERNTE, DIE WELT IM RADIO ZU ERKLÄREN“
Kellner-Verlag, Bremen, ISBN 978-3-95651-265-0
Filmarbeit in Vietnam und in Deutschland mit Freund Michael Geyer
http://www.radiobridge.net/videos/schoenewolke.MPG
Fotos:
© KJS / TdH / Wikipedia
Info:
https://www.kellnerverlag.de/wie-ich-lernte-die-welt-im-radio-zu-erklaren.html