WELT Corona-Update
Hamburg (Weltexpresso) - Nun also doch: Die „Corona-Notbremse" tritt in Kraft. Ab Mitternacht gilt eine Ausgangssperre bis 5 Uhr morgens – aber nur, wenn die Inzidenz in der Region über 100 ist. Das ist jedoch in den meisten der Fall. Nur wenige Ausnahmen sind erlaubt: So dürfen nur diejenigen vor die Tür, die etwa zur Arbeit müssen oder einen medizinischen Notfall haben. Ab Samstag und an den darauffolgenden Tagen gilt die Ausgangssperre schon ab 22 Uhr. Touristische Reisen, die in den Zeitraum fallen, müssen umgebucht werden.
Dass ab Samstag auch die Anzahl der Personen, die zeitgleich zum Beispiel in einen Supermarkt darf, reguliert wird, stößt beim Handelsverband Deutschland (HDE) auf Kritik. „Damit riskiert die Politik Warteschlangen vor den Geschäften. Und das in Zeiten, in denen Menschenansammlungen aus Gründen des Infektionsschutzes anerkanntermaßen vermieden werden sollten“, sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Auch die Schwarz-Gruppe, die Lidl und Kaufland betreibt, äußerte sich ähnlich.
Mit einer Film-Aktion unter dem Motto #allesdichtmachen haben Schauspieler wie Jan Josef Liefers, Ulrich Tukur oder Volker Bruch die Corona-Politik der Bundesregierung scharf kritisiert – und große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Tukur hatte ironisch gefordert: „Schließen Sie ausnahmslos jede menschliche Wirkungsstätte und jeden Handelsplatz. ... Sind wir erst am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert und allesamt mausetot, entziehen wir auch dem Virus und seiner hinterhältigen Mutantenbagage die Lebensgrundlage.“ (Anmerkung unten)
„Es ist eine Zäsur in der Kulturgeschichte der Pandemie: Ein Berufsstand, dem die Politik durch die dauerhafte Schließung von Theatern und Kinos offiziell Überflüssigkeit bescheinigt hat, meldet sich ungefragt zurück – und hält der mit sich selbst beschäftigten Krisengesellschaft den Spiegel vor, fast wie die Schauspieltruppe, die im dritten Akt von Shakespeares „Hamlet“ die Hofgesellschaft schockiert", schreibt unser Feuilleton-Ressortleiter Andreas Rosenfelder. Mehr zu der Debatte finden Sie hier.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Freitag 27.543 Corona-Neuinfektionen innerhalb eines Tages – und eine bundesweite 7-Tage-Inzidenz von 164,0. In welchen Regionen derzeit die 100-er-Inzidenz überschritten wird, das können Sie in der Grafik oben sehen. Eine interaktive Grafik – mit den Inzidenzen zu allen Landkreisen – finden Sie hier.
Das Gespräch der Woche
Daniela Thron-Kämmerer (im Foto)links ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und hat eine Praxis im bayerischen Landshut. Sie weiß, wie es den Jüngeren in der Pandemie geht – und wie Eltern sie vor psychischer Belastung schützen können.
WELT: Frau Dr. Thron-Kämmerer, wie groß ist die psychische Belastung für Kinder und Jugendliche derzeit?
Thron-Kämmerer: Das muss man differenziert betrachten. Nerven tut es alle, aber es belastet nicht alle gleich. Für Kinder aus Familien, die beispielsweise nicht genügend Platz zuhause haben, wo die Eltern Geldsorgen plagen oder sie sehr gestresst sind, kann der Lockdown zum Drama werden. Auch die Stimmung in der Familie spielt eine Rolle – ob man sich mag, miteinander Spaß haben kann und untereinander auskommt. Für manche Kinder läuft es gerade sehr gut: Für sie ist es ein Segen, so viel Zeit mit ihren Eltern verbringen zu können. Mama und Papa helfen mehr bei den Hausaufgaben und es bleibt mehr Zeit zum Kuscheln. Für Jugendliche ist es jedoch besonders schwer, weil sie eigentlich dringend außerfamiliäre Kontakte brauchen, um sich altersentsprechend entwickeln zu können.
WELT: Wodurch zeigt sich bei Kindern, dass es nicht so gut läuft und eine vielleicht schon zu hohe Belastung vorliegt?
Thron-Kämmerer: Bei einigen Kindern bemerke ich eine furchtbare Angst, weil sie befürchten, dass sie andere, zum Beispiel ihre Großeltern, anstecken können. Manche sind sehr gereizt und genervt. Sie schimpfen viel über all das, was sie nicht dürfen. Dann wiederum werden andere auffallend ruhig, weil sie traurig sind und ihre Freunde vermissen. Für Kinder, die schon vor der Pandemie wenig Freunde hatten, ist die Zeit gerade besonders schwer. Streng genommen dürfen sie derzeit nur einen Freund treffen: Wenn nun aber dieser eine Freund lieber jemand anderes treffen möchte, hat ein Kind viel deutlicher vor Augen, dass es nicht Freund Nummer 1 ist. Das tut besonders weh. Mein Eindruck ist zudem, dass viele Kinder derzeit sehr stark zunehmen – einige in drei Monaten rund zehn Kilo. Häufig ist das reines Frustessen. Nun besteht aber nicht gleich bei allen zwingend Therapiebedarf, das will ich auch sagen.
WELT: Einige Studien suggerieren, dass durch die Pandemie insgesamt mehr Kinder und Jugendliche in Therapie müssen. Ist das auch Ihr Eindruck?
Thron-Kämmerer: Bei manchen Zahlen weiß ich nicht, wie belastbar sie wirklich sind. Aber mein Eindruck ist, dass die Fälle in Summe zugenommen haben. Das liegt daran, dass Faktoren hinzugekommen sind, die wir vorher nicht hatten. Wie krank wir – und vor allem die Kinder – aber wirklich sind und womöglich bleiben, wird sich erst in ein bis zwei Jahren zeigen. Ich glaube nicht, dass wir alle nachhaltig krank sein werden. Denn ein großer Faktor, der uns alle schützt, ist, dass die Pandemie uns gemeinsam trifft. Wir alle dürfen viele Sachen gerade nicht. Es ist viel schwieriger etwas zu verarbeiten, wenn es nur eine Person trifft, als wenn es alle angeht.
WELT: Nun beginnt ein neuer Lockdown, viele Kinder bleiben vermehrt zuhause. Wie können Erwachsene die Kinder unterstützen und sie zugleich schützen?
Thron-Kämmerer: In einigen Regionen wie bei uns in Bayern wird sich gar nicht so viel verändern, weil wir seit Wochen diesen Lockdown haben. Man darf die Kinder nicht unterschätzen, denn sie verstehen vieles sehr wohl. Der beste Schutzfaktor für die Kinder ist, wenn die Eltern die Notwendigkeit verstehen und ihren Kindern alles so erklären, dass diese es nachvollziehen können. Es kommt vor allem auf die Haltung der Eltern an und ob sie ein Vorbild sind. Da kann man auch ruhig sagen: „Ja es ist blöd, aber wir machen das Beste draus." Kinder können viel mehr aushalten, wenn die Eltern eine resilientere Einstellung haben und sich danach richten, was die Kinder für Bedürfnisse haben. Beim Thema Schule zum Beispiel könnte man dafür offen sein, dass ein Kind die Klasse wiederholen darf, wenn es das Kind entlastet. Einige Kinder und Jugendliche werden nach der Pandemie regelrecht abgehängt sein und wir als Gesellschaft – inklusive Schule und Jugendhilfe – werden verstärkte Anstrengungen unternehmen müssen, um sie wieder zu integrieren.
WELT: Für den Fall, dass Eltern und Kindern die Decke auf den Kopf fällt: Können Sie Tipps geben, wie man die Kinder beschäftigt oder ablenkt?
Thron-Kämmerer: Es gibt immer mehr Online-Angebote mit Workouts und sehr guten Seiten für Eltern und Kinder, wo man sich Anregungen für witzige Spiele und neue Beschäftigungen holen kann. Da ist zum Beispiel das Portal „Corona und Du“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU Klinikums München, wo auch auf die psychische Gesundheit geachtet wird, oder die Website Seelen-Hirn-Gesundheit vom Spitzenverband Zentrales Nervensystem. Im Lockdown hilft es Kindern zudem, wenn man viel rausgeht, Rad fährt und sich dabei dorthin begibt, wo sich gerade nicht ganz so viele Menschen aufhalten. Wenn wir daran glauben, dass der Lockdown nicht mehr allzu lang geht, dann können wir alle vielleicht nochmal unsere Kräfte mobilisieren.
Anmerkung:
Zu #allesdichtmachen hatte Weltexpresso am 24. April einen Artikel veröffentlicht
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/21935-ausgespielt
Fotos:
Quellenangabe im Text, sonst
©welt
Gespräch der Woche:
©Daniela Thron-Kämmerer | BKJPP
Anmerkung:
Zu #allesdichtmachen hatte Weltexpresso am 24. April einen Artikel veröffentlicht
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/21935-ausgespielt
Fotos:
Quellenangabe im Text, sonst
©welt
Gespräch der Woche:
©Daniela Thron-Kämmerer | BKJPP