Bildschirmfoto 2021 05 01 um 22.22.51DAS JÜDISCHE LOGBUCH Ende April

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - «Wir leben in einer Corona-Diktatur!» wirft der jüngere Mann in die Diskussion ein. «Diktatur?» fragt ein Älterer ungläubig und sagt weiter: «Ich habe zwei Diktaturen erlebt und überlebt. Überlebt! Jeder von uns hätte Opfer von Willkür werden können.» Er erzählt von seiner Zeit unter dem NS- und später dem kommunistischen Regime. «Steckt die Schweizer Regierung Menschen hier ins Lager?» Wer mit falschen Begriffen herumwirft, sei «ein Dummkopf!».

Zwei Tage später entblößt sich Schriftsteller Adolf Muschg in der «Sternstunde» auf SRF mit dem Satz: «Nehmen Sie die Cancel Culture, die wir heute haben. Dass man abgeschrieben wird, wenn man bestimmte Zeichen von sich gibt. Das sehen wir bei feministischen Diskursen ebenso wie bei antirassistischen. Ein falsches Wort und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz.»

Ein falsches Wort und man wird deportiert, gefoltert, entmenschlicht, vergast? Es gibt keine «Form von Auschwitz». Es gibt nur das Vernichtungslager Auschwitz. Es steht nicht als Symbol für Beliebigkeit oder Notstandsrhetorik, sondern Auschwitz bleibt, was es war und weshalb es errichtet wurde: das Menschenvernichtungslager zur Ausführung einer eliminatorischen Ideologie.

Der Sprachzerfall, falsche historische Vergleiche und der Verlust des historischen Gedächtnisses sind nicht, neu aber in der Pandemie nochmals virulenter geworden. Im Jahre 1997 publizierte Adolf Muschg bei Suhrkamp seinen Redeband «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt». Als Replik auf das Zitat des früheren Bundespräsidenten Pascal Delamuraz, «Auschwitz liegt nicht in der Schweiz», fragte er mitten in der Debatte um die sogenannten nachrichtenlosen Vermögen, wie die Schweiz sich zu verändern hätte, wenn sie einsehen könnte, dass ihre Distanz zu Auschwitz nicht so groß ist, wie sie meint. Wie kommt es, dass ein Mann des Wortes und Geistes, ein Künstler der Sprache rund 25 Jahre später wider die eigenen Erkenntnisse missbraucht?

Intellektuelle sind vor Blödheit, und anscheinend auch nicht vor Sturheit, gefeit. Denn Muschg hat bis heute kein besseres Argument geliefert auf die teils reflexartige und wie so oft form- anstatt inhaltsorientierte Empörung. Da nützen auch idiotische Entschuldigungsforderungen von überforderten Funktionären nichts, die lieber die Debatte über den Zerfall des historischen Gedächtnisses führen sollten statt der eigenen Rote-Linie-Strategie von Sag- und Unsagbarem im politischen Diskurs zu folgen auf die Muschg referierte. Dennoch bleibt der Schriftsteller, stellvertretend für so viele orientierungslose Diskutanten, «Ein Dummkopf!», weil er eine wichtige Debatte im Kern erstickt hat. Es gibt keine Grenzen im Denken, im Reden, im Argumentieren. Doch es gibt in einer Gesellschaft der verbrieften Werte einen Respekt vor Schwachen, Opfern, Verfemten und Ermordeten. Auschwitz ist Auschwitz. Kein Symbol. Wer das vergisst, relativiert, missbraucht, soll sich Fotos der Befreiung des Lagers 1945 anschauen und ein paar Geschichtsbücher lesen. Wer Geschichte und seine eigenen Texte vergisst, leidet an einer «Form von Dummheit».

Foto:
Das ist Auschwitz: KZ-Häftlinge bei der Befreiung durch sowjetische Truppen Ende Januar 1945
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 30. 4. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.