refuggeesTheologische Impulse (88)

Thorsten Latzel

Rheinland (Weltexpresso) - Gleich am ersten Tag, nachdem ich zum Präses gewählt worden bin, erreichte mich eine Mail zum Thema „Flüchtlinge“. Eine ältere Frau teilte mir darin ihr tiefes Unverständnis mit, wie die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland sich dafür einsetzen könne, weitere Flüchtlinge aus den Lagern in Bosnien-Herzegowina und von Lesbos aufzunehmen.

„Seit ich denken kann, nimmt Deutschland Flüchtlinge auf - als ich Kind war, musste in der Familienwohnung ein Zimmer geräumt werden, für Flüchtlinge - so hat es sich über 70 Jahre fortgesetzt -... es reicht! Meine Sorge gilt meinen Kindern und Enkelkindern, die all das bitterst aushalten und auch noch bezahlen müssen - und dann irgendwann nicht mehr dazugehören und in der Minderzahl sind.“

So wie dieser besorgten Frau möchte ich gerne allen antworten, die sich vor Fremden und „Flüchtlingen“ fürchten.

Sehen Sie, ich bin ein Kind von Eltern, die beide vertrieben wurden, fliehen mussten. Meine Mutter als siebenjähriges Mädchen aus Danzig, mein Vater als Säugling auf dem Arm meiner Großmutter aus Schlesien. Ich bin sehr froh darüber, dass Menschen damals meine Mutter und meinen Vater als kleine Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg bei sich aufgenommen haben. Sonst gäbe es mich heute nicht. Es war eine Zeit, in der es viel weniger gab als heute. Die große Sorge damals, dass Katholiken und Protestanten nicht miteinander leben könnten (es gab getrennte Schulhöfe), hat sich als unbegründet erwiesen. Ich bin ein Kind aus solch einer konfessionsverschiedenen Ehe.

Auch die „Überfremdung“ Deutschlands durch die sogenannten „Gastarbeiter“ in den Jahren danach hat sich nicht eingestellt. Im Gegenteil: Ohne die starke Einwanderung, die damals niemand so nannte, hätte es nie ein solches Wirtschaftswachstum in Deutschland gegeben. Deutschland wäre nicht Deutschland ohne die Menschen aus Italien, Spanien, Griechenland, Polen, der Türkei, dem früheren Jugoslawien. Nicht ohne ihre Arbeit, nicht ohne ihre Kultur, nicht ohne ihre Religion. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ (Max Frisch) Mit Yusuf habe ich in der Grundschule von Bad Laasphe Fußball gespielt, mit Kadir unsere gleichaltrigen Töchter auf dem Spielplatz in Hannover geschaukelt. „Überfremdet“ habe ich mich nie gefühlt.

Flucht und Fremdheit sind für mich sehr persönliche Themen. Ohne sie könnte ich die Geschichte meiner Familie, mich selbst nicht verstehen. Die Epigenetik erforscht, wie solche Erfahrungen an die nächsten Generationen vererbt werden. Sprichwörtlich in den Knochen stecken. Fragen Sie einmal meine Frau, wie es ist, wenn wir gemeinsam wandern.

Und der Schutz von „Flüchtlingen“ und Fremden gehört für mich fundamental zum christlichen Glauben. Er durchzieht die ganze Bibel: vom Auszug der unterdrückten Israeliten aus Ägypten über die 10 Gebote („Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst“, 5. Mose 5,15) bis zu Jesus, dessen Eltern nach seiner Geburt mit ihm vor Herodes außer Landes fliehen (Mt 2,13ff.). Und der später den Umgang mit Fremden zu einem Maßstab des Weltgerichts gemacht hat: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. [...] Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,35.40)

Wenn Leute versuchen, das, was sie für das „christliche Abendland“ halten, vor Fremden zu retten, scheinen sie hier irgendwas nicht verstanden zu haben.

Das heißt nicht, dass Deutschland nun „alle aufnimmt“. Schon deshalb nicht, weil die meisten Menschen überhaupt nicht aus ihrer Heimat wegwollen, wenn sie nicht müssen. Und selbst wenn Menschen fliehen müssen, bleiben die allermeisten in Nachbarländern.

Das hat auch nichts mit „Gutmenschentum“ zu tun. Nein, „Flüchtlinge“ sind weder bessere noch schlechtere Menschen als Sie und ich. Es sind einfach Menschen auf der Flucht. Oft Familien mit Kindern. Oft junge Männer, weil sie am ehesten eine Chance haben, für die anderen „durchzukommen“. Menschen zum Teil mit tief traumatischen Erfahrungen. Viele mit großer Energie, Hoffnung, Tatkraft.

Es hilft sehr, wenn wir mit dem abstrakten, sorgenvollen Reden über „die Flüchtlinge“ aufhören - und stattdessen mit den konkreten Menschen reden, die es auf ihrer Flucht zu uns geführt hat. Mit Menschen wie Ahmad Dakhnous, den ich letztes Jahr kennenlernen durfte. Ahmad ist als Palästinenser aus Damaskus nach Deutschland geflohen und studiert hier Politik. Es gibt wenige Menschen, die ich jemals so von Demokratie habe schwärmen hören wie ihn. Gemeinsam mit Mitstudent/innen hat Ahmad ein Projekt gestartet, um Integrationskurse weiterzuentwickeln. Weg von Multiple-choice-Fragen hin zur Begegnung mit „Menschen von hier“ - gleich welcher Kultur, Religion oder sexuellen Orientierung. Manchmal verstehen „Fremde“ besser, was unser Land wirklich auszeichnet:

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. [...] Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 GG)

Ich nehme das Thema „Flüchtlinge“ auch deshalb persönlich, weil ich nicht möchte, dass meine Kinder und Enkel einmal in einer lieblosen Gesellschaft leben müssen, wo christliche Werte wie Nächstenliebe oder Barmherzigkeit nichts mehr gelten. In einem Land, in dem man es hinnimmt, dass Menschen ertrinken, nur, weil sie nicht „von hier“ sind. In einem Europa, in dem zu uns Geflüchtete unter menschenunwürdigen Umständen leben - wie etwa in den Lagern in Bosnien oder auf den griechischen Inseln. Auch meine Kinder wollen das nicht und sehen sich überhaupt nicht gefährdet. Im Gegenteil: Sie und ich haben an verschiedenen Orten erlebt, wie gerade Menschen mit Fluchterfahrungen sich einbringen und mitarbeiten, um ihre neue Heimat zu schützen, die sie schützt.

Insofern bin ich überzeugt, dass Sie keine Sorge um Ihre Kinder oder Enkel haben müssen. Allenfalls davor, wenn man einen Keil in unsere Gesellschaft treibt, wenn man Menschen nach ihrer Abstammung anstatt nach ihrer Person beurteilt und so unsere offene, demokratische Gesellschaft gefährdet. Davor behüte uns Gott!

„Fremde“ und „Heimat“

„Fremde“ ist der Ort,
an dem man angewiesen ist
auf die Hilfe, Zuwendung, Barmherzigkeit
von Menschen, die man nicht kennt.
„Heimat“ ist der Ort,
an dem man sie erfährt. (TL)


Foto:
kalhh, auf www.pixabay.com

Info:
Thorsten Latzel , früher Frankfurt, ist seit 20. März Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland
Weitere Texte: www.glauben-denken.de
Als Bücher: https://praesesblog.ekir.de/inhalt/theologische-impulse-als-buecher/