DAS JÜDISCHE LOGBUCH Mitte Juni
Yves Kugelmann
Amsterdam, (Weltexpresso) - Was ist eigentlich Assimilation? Sind säkulare Juden assimiliert, oder sind es etwa jene, die nicht jüdisches Brauchtum integrieren? Oder ist letztlich der Terminus Assimilation meist falsch und meint eigentlich Emanzipation? Es ist der erste Schabbat in der portugiesischen Synagoge seit den Pandemie-Lockerungen. Der Sand auf dem Boden ist frisch gestreut, die Kerzen kaum abgebrannt, der Innenraum unverändert.
Ein authentischer Ort flankiert von der imposanten UNESCO-geschützten Bibliothek «Etz Chaim». Keine Elektrizität, keine Heizung, mehr Fenster als Wandfront. Geleint wird «Schlach lecha». Der Schammes, der Chasan, Funktionäre tragen einen Zylinder. Wie die auffallenden Kopfbedeckungen, die einer Tradition niederländischer Offizieller entspringen, ist der sephardische Amsterdamer «nussach» eigenständig.
Beim Kiddusch im Innenhof des Areals im jüdischen Quartier spricht der aus Spanien stammende Gemeinderepräsentant Marcelo DarHan eine beeindruckende, geistreiche, witzige «dwar thora» über Kundschafter, «schidduchim» und innovativen jüdischen Geist. Die versammelte Gemeinschaft mit chassidischen, säkularen, liberalen und ganz traditionellen Amsterdamer Jüdinnen und Juden amüsiert sich köstlich. Es ist die Gemeinde, in der die Familie Baruch Spinozas Mitglied war – auch noch nachdem der berühmte Philosoph in den Bann gelegt worden war. Ein Ort für alle, das sephardische Zentrum im Exil, der wie kaum ein anderer für die jüdische Migrationsgeschichte steht. Die aschkenasischen Synagogen auf der anderen Strassenseite sind längst Museum, während Woche für Woche die Sephardim mit Zylinder in die Zukunft schreiten. Ganz nach dem Credo im «dwar thora»: «Niemals den richtigen Zeitpunkt verpassen.»
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©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. 6. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.