Von einem, der hinterm Deich lebt
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Liebe Claudia, Du möchtest wissen, was ich so treibe. Mein letzter Beitrag hatte den Titel "Es knistert im Gebälk". Inzwischen ist viel Wasser die Weser runter geflossen und die neue Regierung in Berlin nimmt allmählich Gestalt an.
Du ärgerst Dich, dass die FDP wieder große Bogen spuckt, aber so ist das nun mal. Die Freien Demokraten waren nie eine richtige politische Größe im Sinne einer Volkspartei wie die SPD oder die CDU. Sie hatten aber immer großen Einfluss als Zünglein an der Waage. In Sachen Wirtschaft und Finanzen waren sie immer einen Tick reaktionärer als die Unionsparteien, in Sachen Demokratie und Bürgerrechte hingegen standen sie fast links von der SPD.
Wenn Du so willst, wohnen zwei Seelen auch in der Brust der FDP. Wir müssen auf jeden Fall jetzt mit ihr rechnen, aber als Hauptgegner betrachte ich sie nicht. Der ist und bleibt für mich die CDU/CSU, obwohl ich keineswegs alle Abgeordneten der Unionsparteien als Reaktionäre bezeichnen möchte. Es gab auch dort immer einige Gute. Gefährlich sind Leute vom Schlage eines Friedrich Merz, eines Hans-Georg Maaßen oder eines Philipp Amthor, der anscheinend schon mit einem politischen Greisengehirn geboren wurde.
Warten wir ab, wie es weiter geht. Ich sehe Deutschland und die Welt an einer Zeitenwende. Wie sich die USA aus dem Afghanistan-Abenteuer verabschiedet haben, war so ungewöhnlich und demütigend, dass ich mir keinen Vers darauf machen kann. So verlässt eine Weltmacht nicht den Schauplatz eines Machtkampfes, bei dem es in Wirklichkeit nicht um die Bekämpfung des Terrors ging, sondern um die Wahrung einer weltpolitisch bedeutenden strategischen Position
Die USA scheinen sich mit dem Fortbestand des Terrors abgefunden haben, Das zeigt ihr peinliches Schweigen zu dem Attentat während des chaotischen Abzug aus Afghanistan, bei dem 180 Tote zu beklagen waren. 180 Tote ! Und Washington macht weiter, als sei nichts geschehen. Jetzt kungeln die USA mit den Talibans, die uns gestern noch als Feinde der Menschheit vorgestellt wurden, und die gewählten Vertreter der Weltbevölkerung stehen mit offenen Mündern da, ohne ein öffentliches Wort der Kritik über die Lippen zu bringen. Ich beziehe unsere Beinahe-Regierung da mit ein.
Jetzt wird ein neuer Kriegsschauplatz eröffnet mit dem Weißrussen Lukaschenko als Hauptschurken, nachdem die Ukraine ihrer Rolle als Störenfried anscheinend nicht in dem erwünschten Maße nachkommt. Inzwischen baut die Volksrepublik China ihre Stellung als wirtschaftliche, militärische und politische Hauptmacht der Welt unter dem Stichwort "Seidenstraße" ständig weiter aus. Der Widerstand unserer Grünen gegen Nordstream2, also die Ölleitung von Russland nach Europa, bei dem sie sich als Minenhunde der amerikanischen Ölkonzerne aufführen, wirkt vor dem weltpolitischen Geschehen wie die Hanswurstiade einer vergangenen Epoche.
Ich bin etwas abgekommen von der Beantwortung Deiner Frage nach meinem Tun und Lassen in der Einsamkeit hinter dem Deich. Ich bin dabei, Texte aus den letzten zwei oder drei Jahren zwischen Buchdeckel zu versammeln, damit sie nicht irgendwo in den Schluchten meines Rechners verfaulen. Einen Titel habe ich schon: Nachlese. Es kann sein, dass ich Dich noch bitten werde, mir eine Liste mit meinen Texten - einschließlich der unter Pseudonym geschriebenen - zu schicken. Das macht Dir sicher neuen Kummer, dabei hast Du eh genug davon. Ob ich Dir mein Herbstgedicht schon geschickt habe, kann ich auf die Schnelle nicht sagen. Ich stelle Dir anheim, damit und mit diesem Brief zu machen, wonach Dir der Sinn steht.
Herbstgedicht
Auch wenn der Wind jetzt kälter weht,
zum Lieben ist es nie zu spät,
reift doch bei Frost der beste Wein.
Drum, Freunde, lasst uns fröhlich sein.
Zum Weinen bleibt uns noch viel Zeit.
Jetzt trägt der Herbst sein schönstes Kleid.
Holt Euren Drachen aus dem Schrank
und lasst die Leine möglichst lang.
Zusammen mit dem Leichtgewicht
lacht keck dem Winde ins Gesicht
und ruft der Welt, der schnöden, zu:
Lass’ du uns endlich mal in Ruh!
17.10. 2021 K. N.
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