kurtshausEine Episode aus der Vorkriegszeit in Ostböhmen

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Die Äste der Apfelbäume an der Bausnitzer Volksschule reichten bis weit auf den Weg, der an der Schule vorbei hinauf zum Friedhof führte. Wer bei einer Beerdigung als Kreuzlträger eingeteilt war, musste höllisch aufpassen, dass  sich der Trauerflor um den silbernen Totenkopf des Kreuzes nicht in den Zweigen der Apfelbäume verfing. Alle Jungen waren scharf darauf, das fast drei Meter hohe Kreuz tragen zu dürfen, Mit religiösem Eifer hatte das wenig zu tun, sondern mehr mit dem kleinen Taschengeld, das dabei abfiel.

Bausnitz hatte keine Kirche und keinen Pfarrer. Zum Beichten und zur Kommunion mussten die Kinder nach Markausch gehen, wir im benachbarten Adamstaler in die Kirche von Alt-Rognitz, das in der entgegen gesetzten Richtung lag.  Besonders eifrige Kirchgänger gab es weder hier noch dort.  In Adamstal wohnten hauptsächlich Arbeiterfamilien, und den Bausnitzern war der einstündige Fußmarsch durch den Wald bis nach Markausch wohl doch zu lang.

Vorbereitet für den ersten Kirchgang wurden wir in der Schule vom Markauscher Pfarrer, der uns jeweils am Freitag während der letzten Stunde Religionsunterricht erteilte. Um diese Zeit stand uns der Sinn allerdings schon nach anderen Dingen. Wer  nicht aufmerksam genug zuhörte, den zupfte der geistliche Herr an den Haaren über den Ohren, einer besonders schmerzempfindlichen Stelle. Zum Schluss betrank sich der Pfarrer regelmäßig im letzten Gasthaus des Ortes und torkelte dann von dort aus nach Hause.

Mich hat der erste Kirchenbesuch als Kind ungemein beeindruckt. Ich hatte bis dahin das Innere einer Kirche noch nie bewusst wahrgenommen. Die Stille in dem hohen Raum und die  fremdartig riechende Luft verschlugen mir den Atem. Besonders stark berührte mich eine von  Kerzen beleuchtete Pieta in der Wand neben dem Eingang.

Flüsternd verglichen wir rasch noch einmal unsere Merkzettel für den Beichtstuhl und ergänzten je nach Bedarf unser Sündenregister. Dabei spielte es offenbar kein Rolle, ob es kurz war oder lang. Jeder musste zur Buße vor dem Altar drei Vaterunser beten. Weil ich den Text nicht auswendig konnte,  orientierte ich mich an der Verweildauer meines Vorgängers auf den Stufen zum Altar. Für die Kommunion am nächsten Morgen  rüsteten wir uns daheim mit einigen Buchteln, die wir, nicht ohne die Reste der Hostie am Gaumen mit dem Finger zu entfernen, sofort nach dem Kirchgang in die leeren Mägen stopften.

Eines schönen Tages durfte ich das Kreuz mit dem Totenkopf und dem Trauerflor tragen. Letzte Anweisungen bekam ich vom Totengräber, der das Kreuz neben Knochen aus alten Gräbern und seinen Gerätschaften im Beinhaus des Friedhofs aufbewahrte. Ich dürfte nicht zu schnell und nicht zu langsam gehen, trug er mir auf,  und musste auf einen bestimmten Abstand zu den Pferden achten, die den überdachten Leichenwagen mit dem Sarg zogen. Ich versprach, mir alle Mühe zu geben, aber dann passierte doch, wovor ich mich gefürchtet hatte. Der Schleier am Kreuz verhedderte sich in den Ästen  eines Apfelbaumes an der Schule. Beim Rütteln riss ich ein paar Äpfel von den Zweigen, die auf  den Leichenwagen  fielen. Das dumpfe Gepolter ließ die Pferde unruhig  werden und im Leichenzug machten die Leute lange Hälse.

Ich wäre am liebsten im Boden versunken, aber das Malheur war nun mal geschehen und mein Ruf als Kreuzlträger für immer dahin. Zum Glück hatte ich  in jenem Jahr die Schule gewechselt, so dass mir die übliche Tracht Prügel, mit der  unser Volksschullehrer schnell bei der Hand war, erspart blieb.

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