Als Zeitfunk-Redakteur bei Radio Bremen
Klaus Jürgen Schmidt
Norddeutschland (Weltexpresso) – Alle in der Abteilung waren abwechselnd Redakteur oder Moderator, das hieß, in einer Schicht zuständig für die Auswahl der Tages-Themen und geeigneter Korrespondenten sowie Gesprächspartner, in einer anderen Schicht zuständig für die Präsentation am Mikrofon sowie für das Führen von LIVE-Interviews. Die Themen wurden bei den täglichen Redaktionskonferenzen in der Chefredaktion vorgestellt und debattiert.
Es konnte aber sein, dass ein Redakteur die Bedeutung eines nicht tagesaktuellen Themas über einen gewissen Zeitraum verfolgte, um dann herauszufinden, auf welche Weise es zu einem geeigneten Zeitpunkt Gegenstand einer Sendung werden könnte.
Nicht allen Kollegen und Kolleginnen war das ein wichtiger Arbeitsansatz. Mir schon. Durch mein Hineinschauen in immer mehr fremde Kulturen schien ich eine Sensibilität für sogenannte „Rand-Themen“ entwickelt zu haben, die diese Kulturen betrafen. Ein mir wichtiges Thema war z.B. der Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Vietnam ab Februar 1979 geworden. Auslöser des militärischen Konflikts war das vietnamesische Vorgehen gegen die mit China verbündeten Roten Khmer in Kambodscha gewesen. China hatte damals einige Grenzstädte in Vietnam besetzt und zog sich nach heftigen Kämpfen wieder zurück, ohne das vietnamesische Engagement in Kambodscha beenden zu können. 1983 schien Ruhe an der Front zu herrschen, dann kam es plötzlich wieder zu beiderseitigen Grenzverletzungen.
Ich hatte mir angewöhnt, mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Berichterstattung über Weltereignisse auch in ausländischen Rundfunk-Medien zu verfolgen, so auch Berichte der „Stimme der DDR“. Und da fielen mir die außergewöhnlich professionellen Reportagen eines Hörfunk-Reporters aus dem vietnamesisch-chinesischen Grenzgebiet auf, der immer wieder mit anschaulichen Beispielen auch auf Kriegsfolgen für die betroffene Zivilbevölkerung einging. Zu jener Zeit war dort kein anderer deutscher Korrespondent vertreten. Ich stellte mit zunehmendem Interesse fest, dass die Reportagen des DDR-Kollegen in wöchentlichem Abstand zu hören waren.
Eines Tages ließ ich mich aus der Zeitfunk-Redaktion mit der Telefon-Zentrale des DDR-Rundfunks in Ostberlin verbinden. Dort war man über den Anruf einer westdeutschen Radio-Redaktion zunächst überrascht, leitete den Anruf dann aber an die zuständige Redaktion weiter. Als wäre es das natürlichste der Welt erzählte mir schließlich deren Leiter von den Arbeitsbedingungen seines Reporters im vietnamesischen Grenzgebiet. Und ich erfuhr, dass der seine O-Ton-Berichte jede Woche einmal per Flugzeug von Hanoi aus nach Ostberlin schicke. Wann denn die nächste Lieferung zu erwarten sei? Morgen, aber dann müsse der Beitrag noch technisch bearbeitet werden, Radio DDR würde ihn übermorgen senden. Ob der Beitrag denn zu Radio Bremen überspielt werden könne? Klar – über den ARD-Sternpunkt in Frankfurt brauche bloß eine Leitung zu „Radio DDR“ gebucht werden.
Mir wurde allmählich klar, dass ich dabei war, Glatteis zu betreten. Es gab wohl Programm-Kooperationen zwischen westdeutschen und ostdeutschen Rundfunkanstalten, aber die beschränkten sich weitgehend auf gemeinsame Übertragung von Konzerten von hüben und von drüben. Es gab westdeutsche Korrespondenten in Ostberlin und ostdeutsche in Bonn, aber zur Übernahme von Inhalten der jeweils anderen Seite – ohne ideologischen Vorbehalt – war es noch nicht gekommen
Als ich als verantwortlicher Redakteur einer Abendsendung in der vormittäglichen Konferenz bekanntgab, ich hätte für die Überspielung eines O-Ton-Berichtes aus dem vietnamesisch-chinesischen Grenzgebiet eine Leitung zum DDR-Rundfunk bestellt, herrschte für einen Moment Sprachlosigkeit – auch beim Chefredakteur. Als er seine Sprache wiederfand, machte er klar: So nicht! Was ich mir dabei gedacht hätte?
Erst anhören, dann entscheiden, sagte ich, und machte die Gründe für mein Vorgehen klar: Bisher hätten wir aus diesem Krisengebiet allenfalls aus zweiter oder dritter Hand berichtet. Heute würden wir einen professionellen Augenzeugen hören können. Sollte sein Bericht nicht den Standards unserer Auslandsberichterstattung genügen, würden wir ihn nicht senden. Übrigens die anderen drei ARD-Sender auch nicht. ...
Welche drei anderen Sender?
Nun ich hätte, wie üblich, allen anderen aktuellen ARD-Hörfunk-Redaktionen meine Progamm-Planung für den Abend mitgeteilt. Drei Redaktionen hätten Leitungen zu uns gebucht, um sich den Beitrag anzuhören.
Die halbe Chefredaktion stand im Büro, und auch der Chefredakteur hatte es sich nicht nehmen lassen, dieser Premiere beizuwohnen. Die Überspielzeit war gekommen, der Lautsprecher blieb stumm, kein Ton aus Ostberlin.
Ich ließ mich telefonisch mit dem Redaktionsleiter in Ostberlin verbinden und schaltete das Telefon laut. Alle hörten mit, als die Empfehlung kam: „Sagen Sie doch bitte Ihren Kollegen beim ARD-Sternpunkt in Frankfurt, sie sollen die Leitung nicht zum ARD-Studio in der DDR-Hauptstadt schalten, sondern zu Radio DDR in der Nalepa-Straße!“
Schließlich wurde die Leitung lebendig mit der international üblichen Kennung in mehreren Sprachen: „Dies ist die Stimme der Deutschen Demokratischen Republik!“ – „Это голос немецкой демократической республики „ – „This ist the Voice of the German Democratic Republic!“ – „C’est la voix de la République Démocratique Allemande!“