dkp querAm 11. Mai 1952 schoss die Polizei erstmals mit scharfer Munition auf Demonstranten, Teil 5/11

Kurt Nelhiebel

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - »Werden wir richtig informiert« fragte Karl Jaspers 1964. Obwohl keine staatliche Zensur existiere, gebe es eine Ungewissheit und Unruhe bei Lesern, Redakteuren und Schriftstellern, ob die Öffentlichkeit erfahre, »was wir wissen sollten, nämlich die zur Orientierung in unserer Situation und die für unsere Willensbildung entscheidenden Tatsachen, Vorstellungen und Gedanken«. Große Journalisten, fuhr Jaspers fort, erzeugten die öffentliche Wahrhaftigkeit.

»Wir schmeicheln ihnen nicht, wenn wir ihren hohen Beruf preisen.« Der Journalist habe auch über »ihm unerwünschte Tatsachen« zu berichten. Selten gab es mehr Grund zu »Ungewissheit und Unruhe« als in den Tagen nach dem 11. Mai 1952, doch keiner der von Jaspers so bezeichneten großen Journalisten hielt es damals für notwendig, die von ihm angemahnte öffentliche Wahrhaftigkeit zu erzeugen. Die Wahrheit »auch gegen die eigenen Interessen und Vorurteile zu ermitteln und zu äußern«, erfordere Mut, schrieb Walter Dirks Mitte der sechziger Jahre. Wie verhielt es sich damit in den Tagen nach den dramatischen Ereignissen in Essen am Muttertag des Jahres 1952? Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« erwähnte die Zusammenstöße mit keiner Zeile. Erst drei Wochen später tauchte der Name Philipp Müller zum ersten Mal in dem sonst so akribisch recherchierenden Wochenblatt auf, und zwar in einem Bericht über den III. 
Deutschen Schriftstellerkongress in Ostberlin, auf dem Johannes R. Becher wegen eines Missglückten Gedichtes auf den Getöteten kritisiert worden war. (Nr. 23/1952) Auch in der liberalen Wochenzeitung »Die Zeit« kein einziges Wort. Im Archiv der »Frankfurter Rundschau« wohl Meldungen, aber keine kommentierende Zeile. Und bei der FAZ?

»Es gab keinen Kommentar«, ließ mich das Archiv wissen. Die »Süddeutsche Zeitung« biß sich am 14. Mai an einem Beileidstelegramm des Sowjetzonenpräsidenten« Wilhelm Pieck fest, das dieser an den Zentralrat der FDJ geschickt hatte, und fragte, ob es sich dabei um ein politisches Beileid gehandelt habe. Weiter hieß es dann in einem »Streiflicht« auf der ersten Seite: »In den kommunistischen Zeitungen findet man das Bild eines jungen Menschen, der in Essen sein Leben auf der Straße ließ: das Bild eines Einundzwanzigjährigen,  jung, verheiratet und Vater eines Kindes von fünf Monaten. Wir zweifeln genau so wenig wie Herr Pieck daran, dass dieser junge Mensch ein bedauernswertes Opfer unserer Zeit ist. Eine Frage drängt sich uns freilich auf: die Frage nach der Urheberschaft: Hier beginnen unsere Zweifel. Waren vielleicht jene ›Friedenskarawanen‹, die plötzlich mit Steinen und Schüssen ›demonstrierten‹, waren sie vielleicht doch nicht ganz so friedlich wie ihr Name, und vor allem – diese Frage geht Herrn Pieck persönlich an: pflegen sich 
kommunistische Karawanen in Westdeutschland so spontan zusammenzufinden, wie der Text des Beileidstelegramms vermuten lassen könnte?“

Weiter heißt es: „Es gibt, wie gesagt ein menschliches Mitleid und es gibt ein politisches Beileid, das diesen Namen kaum mehr verdient. Der Himmel allein mag entscheiden, ob das Beileid des Sowjetzonenpräsidenten noch einer dritten Kategorie angehört, ob es das Beileid des großen Funktionärs ist, der mit Tränen in den Augen die Opfer der von ihm ferngelenkten ›Friedenskarawane‹ bedauert. Wir wissen es nicht. Dafür scheint Herr Pieck als Funktionär eines totalitären Systems umso genauer zu wissen, an wen er sich mit seinen Beileidsbekundungen jeweils zu wenden hat. Das unterscheidet seine Lage abgrundtief von der eines Politikers und überhaupt jedes menschlichen fühlenden Wesens in der freien Welt. Hier weiß nämlich niemand zu sagen, wem jenseits des Eisernen Vorhangs wir unser Mitleid zuerst aussprechen sollten. An wen müssten wir wohl die vielen Hunderte von Briefen adressieren, die wir täglich als Ausdruck unserer  Verbundenheit und unseres Mitleids mit den namenlosen Opfern eines grausamen Regimes absenden möchten? Und selbst wenn wir’s wüssten, würden wir uns doch zurückhalten müssen – wohl wissend, dass den Angehörigen, eben unseres Mitleids wegen, neues, noch größeres Übel geschähe.«
Fortsetzung folgt

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