DAS JÜDISCHE LOGBUCH, Anfang Juli
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Was wäre, wenn der Kampf gegen Antisemitismus längst von jenen okkupiert worden wäre, die den Kampf gegen Antisemitismus nur für ganz anderes nutzen? Was, wenn Antisemitismusbekämpfung an Antisemitismusbeauftragte oder an politische Funktionäre oder an vom Staat abhängige Organisationen abdelegiert worden wäre? Würde da unabhängig von irgendwelchen Sekundärfaktoren Antisemitismus als Antisemitismus geahndet?
Im Juli werden die politischen Eliten wieder auf den Wagner-Hügel in Bayreuth pilgern und einem der größten Antisemiten Deutschlands die Ehre erweisen. Vielleicht werden einige die Jahresausstellung der Nolde-Stiftung Seebüll anschauen gehen oder Ernst-Jünger-Bücher lesen. Die vergessenen Antisemiten sind präsent im deutschen Kulturbetrieb wie viele andere. Doch erst ein 20 Jahre altes Gemälde aus Indonesien konnte den Deutschen den Offenbarungseid abgewinnen, dass man gegen Antisemitismus vorgehen würde.
Mit der nötigen Eskalation rennen alle in die falsche Richtung und geben sich einem Ritual hin, dass in Deutschland Tradition hat. Eine Woche zuvor stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Relief der Judensau an der Stadtkirche von Wittenberg belassen werden kann (tachles berichtete). Antisemitismus wird es immer geben.
Die Einwirkung durch Funktionäre ist fragwürdig in Kompetenz und Form. Vor allem geißelt sie zu oft Jüdinnen und Juden, versetzt sie in eine Abhängigkeit oder nimmt sie nur als Vorwand. Das wäre nicht gut für die freie Gesellschaft, für die wichtige Aufklärung gegen Antisemitismus, Diskriminierung und Rassismus. Sie entzweit oftmals Juden und Israel, Juden von anderen Gemeinschaften und okkupiert das Jüdische – eine der schlimmsten Formen des Antisemitismus.
Vielleicht ist es an der Zeit, ohne Deutschlands Eskalationstradition in Bayreuth den vermeintlich alten Antisemitismus offenzulegen, zu verhandeln und auf die politische Agenda zu setzen, um im Kampf gegen den sogenannten neuen etwas glaubwürdiger daherzukommen. Der rechtsnationale, rechtsextreme Antisemitismus kostet in Deutschland bis heute mehr Menschenleben als jeder andere. Er reicht, wie in den letzten Monaten Studien belegten (tachles berichtete), bis tief in Sicherheitsbehörden hinein. Da ist die Konklusion der Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem aktuellen «Spiegel»-Essay «Meint ihr das wirklich ernst?» leider wahr, dass der «Wandteppich aus Indonesien» nicht wirklich das Hauptproblem zum Thema Antisemitismus ist.
Aber natürlich ist er eine willkommene Steilvorlage, um die nachhaltigeren ungelösten Antisemitismusprobleme zu überlagern.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. Juli 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.