Eine Lausitzerin in der Rhön

Der kräftige Klatschmohn auf einem großformatigen Gemälde wirkt unnatürlich groß, das Bild mutet an, als läge man tief inmitten des Mohnfeldes und sehe in der Ferne den Wolken zu. Auf einem weiteren Bild in einem Birkenwald, fühlt man sich, als sei man ein hinter dicken Stämmen versteckter Beobachter von etwas Unbekanntem. Über eine ihrer Lausitzer Schneelandschaften sagen viele Besucher, das sei doch die Rhön.

Die Künstlerin arbeitet ziemlich wirklichkeitsnah, „ich weiß genau, wo hier der Radweg lang geht“, meint sie. Dennoch malt sie nicht fotorealistisch, sondern transformiert die Landstriche ihrer Region - oft meint man, eigene Erinnerungsorte zu erkennen. Durch ungewöhnliche Perspektiven und heftige Farbstrukturen werden ihre Bilder geheimnisvoll und mit Gefühlen aufgeladen.

Zugleich hat Seidel neben ihrer Kleinsassener Schau noch zwei weitere Ausstellungen. Sie ist frisch an der Dresdner Kunsthochschule diplomiert und präsentierte dort, bis kurz nach Beginn des Stipendiats, ihre meist analogen Fotografien. Auch diese Werke haben einen rätselhaften Touch, weil die abgebildeten Menschen immer etwas zu erblicken scheinen, was man als Betrachter nicht sieht. Ihre gemalten „Porträts“, die sie derzeit auch noch im Königshainer Schloss zeigt, sind durchaus komisch: Da schauen nur Füße aus einem Bett oder ein Opa - ihr Opa - streckt die Zunge aus. Die Künstlerin wuchs in Königshain auf und wurde vom dortigen Künstlerhaus im Schloss für das Stipendium ausgewählt.

„In unserer kleinen Gemeinde ist es normal, dass man einen „handfesten Beruf ergreift“, erzählt Seidel. Deshalb waren die Eltern nicht begeistert, als die Tochter Kunst studieren wollte. Doch statt ein soziales Jahr abzuleisten oder das übliche Auslandsjahr nach dem Abitur zu machen, nutzte sie das obligatorische zweisemestrige Orientierungsjahr der Akademie. Natürlich blieb sie der Kunst treu und konzentrierte sich auf Malerei, Zeichnungen und Fotografie. Mittlerweile sind die Eltern stolz auf ihr Künstlerkind geworden.

Wie geht’s jetzt weiter nach ihrem Diplom und den drei Ausstellungen? Seidel weiß, dass es im Moment schwer ist, von der Kunst zu leben. Aber sie ist bereits gut vernetzt, organisiert eigene Workshops für künstlerisch Interessierte oder realisiert Projekte mit Kindern und in der Volkshochschule. Ihr Atelier ist Teil einer alten Gaststätte, die sie zukünftig - mit weiterer Unterstützung - als Kunst-Café nutzen will.

Hier in Kleinsassen, wo sich die Künstlerin nach einer Woche „gut eingelebt“ hat, kann sie sich von der anstrengenden Zeit erholen. Sie malt intensiv, geht in der „total schönen Landschaft“ der Rhön spazieren und redet gerne mit den Gästen der Kunststation. „Die Menschen hier sind nicht so zurückhaltend wie daheim“, freut sie sich. Sie schafft derzeit an zwei Bildern gleichzeitig, weil die Ölfarbe nur langsam trocknet. Auf der Staffelei entsteht ein Motiv der Ostsee, ihrer zweiten Heimat, das andere begonnene Werk zeigt den Blick von der Milseburg auf Kleinsassen.

VIA REGIA
Seit 2014 pflegt die Kunststation im Landkreis Fulda den Kulturaustausch mit dem Künstlerhaus Schloss Königshain im Landkreis Görlitz. Beide gewähren jährlich wechselseitig einmal Kunstschaffenden eine monatliche Residenz im Partnerort. Sie können dort leben, im offenen Atelier arbeiten und ihre Werke ausstellen. Beide Orte liegen an der alten Handelsstraße Via Regia (Königliche Straße), die im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit den Osten mit dem Westen verband und auch durch zahlreiche osthessische Städte führte. Entlang der Via Regia fühlten sich die Menschen einst aufgrund ihres Handels und dem Austausch der Kulturen miteinander verbunden. /hwk

Foto:
Hanswerner Kruse

Info:
Studio-Ausstellung von Anne Seidel „Aus Liebe zu Dir“ bis 14. Oktober. Geöffnet Di. bis So. 13 - 18 Uhr
Kunststation Kleinsassen