Kurt Nelhiebel
So wie in diesem Jahr hat der November sich kaum jemals verkleidet. Spräche der Kalender nicht dagegen, hätte er auf jeder Bühne als Oktober bestehen können. Keine Träne im Auge und keinen Nebelschleier im Haar, lehnt er sich an jeden von der Sonne beschienenen Hügel und an jede Hauswand, um dann in die erholsame Kühle des Schattens unter den Bäumen und die Stille auf dem Friedhof einzuztauchen.
Kein Lüftchen regt sich. Ab und zu sinkt ein gelbes Blatt ins welke Gras, in dem kleine Spinnen ihre kunstvollen Netze aufgespannt haben. Ein Schwarm Krähen zieht krächzend durch das blasse Blau über den Baumkronen hinaus auf die Felder vor der Stadt, wo sich seit Tagen hunderte von Schwänen die Mägen füllen. Schon am Nachmittag steht die Sonne dicht über den Büschen am Deich. Von Minute zu Minute werden ihre Schatten länger und länger.
Im Garten haben Bäume und Sträucher unmerklich ein Blatt nach dem anderen abgeworfen und den vermoosten Rasen in einen bunten Teppich verwandelt. Mit der Zeit dominieren die violettfarbenen Blätter der Blutpflaume und das satte Gelb der Blätter aus der wuchtigen Krone einer majestätischen Esche das bunte Mosaik. Spiegelt sich ein Sonnenstrahl in der glänzenden Oberseite, verschießen die Blätter kleine Lichtpfeile in alle Richtungen.
Die Luft ist immer noch warm und macht das Atmen leicht. Der Hibiskus allerdings scheint zu spüren, was die Stunde geschlagen hat. Eines Morgens waren alle Zweige kahl, und die Zeitungen im Briefkasten fühlten sich feucht an, als hätten sie sämtliche Tränen aufgesogen, die während der Nacht auf den Kriegsschauplätzen der Welt geflossen sind.
Auf der Terrasse liegen die Schalenreste einer Walnuss, die das Eichhörnchen in der Dämmerung des Vorabends verspeist hat, um nicht mit knurrendem Magen in seinen Koben zurückkehren zu müssen. Die Krone des Walnussbaums im Garten des Nachbarn ist schon lange kahl, während der Apfelbaum seine Blößen immer noch tapfer verhüllt. Irgendwann wird auch er sich nicht länger dagegen wehren können, dass der November gekommen ist, mochte er sich noch so geschickt als Oktober verkleiden.
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©Verfasser
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