Yves Kugelmann
Tel Aviv (Weltexpresso) - Nicht jede nächtliche Taxifahrt hat ein Ziel – aber einen Sinn. Saxophonklänge begleiten die Fahrten im Episodenfilm «Night on Earth» durch Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki. Der Jazz von Tom Waits liefert den Taxigesprächen die Brise Ironie, die Fahrer liefern die Tiefe der Gesprächen. Der Fluchtraum Taxi in der Großstadt – auf einmal ist der Weg das Ziel und unklar, wohin die Fahrt geht, wohin das Gespräch führt und was der nächste Tag im Labyrinth der Unklarheit bringt.
Heute Nacht geht die erste Fahrt vom Flughafen nach Tel Aviv. Wortlos. Adi hat jemenitische Wurzeln, diskutiert am Telefon, legt auf. «Bist du zufrieden mit dem Wahlresultat?» «Ja», sagt Adi. Doch von Bibi hält er dennoch nichts. «Lapid mochte ich nicht.» Was blieb da also anderes übrig. So banal können die Dinge sein. Doch in der Außensicht ist alles ein wenig anders. Noch nie lief Israel Gefahr, eine rechtsextremere Regierung zu bekommen. Eine Koalition, die im so genannten Westen ihresgleichen sucht. Wenn die Wahlversprechen umgesetzt werden, dann wird Israel ein noch nationalistischeres, theokratischeres Gebilde, in dem die liberale Gesellschaftsordnung abgeschafft wird, die Gewaltentrennung durch ein gestutztes Rechtssystem aufgehoben ist.
Diese Entwicklung hat vor vielen Jahren begonnen und zeigt sich schon im täglichen Sprachgebrauch. Es ist immer wieder von «den anderen» die Rede. Die anderen sind die Nichtjuden, die Araber, die Palästinenser, die Säkularen, die Liberalen, LGBT und so fort.
Aus dem Stadion in Yafo klingt Fangesang und beim Abendessen sitzt ein besorgter Publizist, der mit einem Bein auf dem Absprung aus Israel ist. «Wer will denn in so einer Gesellschaft noch leben?» Er erzählt von rechtem Mob auf den Strassen, von Jugendlichen, die T-Shirts mit der Aufschrift «Baruch Goldstein» tragen. Er erzählt von den vielen Dingen, die sich langsam abzeichnen, nicht sichtbar sind, von den Israeli nicht gesehen werden oder gesehen werden wollen. Er wagt szenarisch abzuschätzen, was etwa geschehen mag, wenn Itamar Ben-Gvir Polizeiminister wird.
Shai ist 45 Jahre alt, lebt in Beersheva und fährt Taxi in Tel Aviv. Es geht nach Jerusalem. Auch er habe Netanyahu gewählt, hoffe auf eine gute Wirtschaftspolitik. «Das Land ist zu teuer geworden.» Der Pakt mit den Rechtsextremen Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich geht ihm gegen die Strich: «Die Orthodoxen werden noch mehr Geld erhalten. Natenyahu hat es schon zugesagt.» Aufgewachsen ist Shai in Mizpe Ramon. Sein Vater stamm aus Mumbai, spricht Marathi, seine Mutter aus Kerola spricht Malayalam. Ein Kind von eingewanderten jüdischen Indern. Seit sieben Jahren befindet Shai sich im Scheidungskrieg mit seiner aus Marokko stammenden Frau. Seine Tochter kann er nur 40 Prozent der Zeit sehen, obwohl ihm gemäß Gericht mehr zustehe. Er hält in Rehavia an der Rechov Hanasi am Übergang zur Jabotinsky. Straßennamen, die auch in diesen Tagen Israels Bandbreite in Erinnerung rufen. Vor der Residenz von Präsident Itzchak Herzog warten die Journalisten. In wenigen Minuten wird Netanyahu mit der Regierungsbildung beauftragt. Der Spaziergang entlang der alten Kolonialgebäude kontrastiert die Gegenwart. Vorbei am ehemaligen Militärgericht unter dem britischen Mandat, am Institut des Oberrabbinats, am Albert-Einstein-Platz mit dem Van-Leer-Institut, der Villa Harun al-Rashid, zum Jerusalem Theater und vorbei an Israels Demokratie-Institut zur Jallat-Villa mit den wunderbaren armenischen Keramiken zum Termin im Archiv. Von den Geschichten in den Strassen zu jenen in den Dokumenten. Es erscheint eine Frau um die 45. Sie arbeitete einst für Premier Ariel Sharon, dann für Ehud Barak, später in der Privatwirtschaft bei Microsoft. Sie will pädagogische Programme zu Demokratie und Toleranz entwickeln, verdreht die Augen beim Namen Netanyahu. Die Aufgabe wird nicht einfach in einem Land, da sich gerade gesellschaftliche Grenzen zwischen Denk- und Sagbarem noch mehr verändern. «Wann endlich wird diese Gesellschaft zusammen finden?» sagt sie seufzend.
Yassir spricht auf der langen Fahrt von Jerusalem nach Tel Mond kaum ein Wort. Ist verschlossen. Er fragt nach dem Wohlergehen. «Ist die Temperatur ok? Wollen Sie Wasser?» Er fährt ruhig, betrachtet die anderen Autos nicht als Gegner, sondern reiht sich in den Fluss ein, lässt sich von Gehupe nicht aus der Fassung bringen, oder von rechts überholenden Autos. Angekommen, bedankt er sich mehrfach für die Fahrt. «Haben Sie eine Karte?» Yassir hat etwas Beruhigendes, ist etwa 50 Jahre alt, lächelt und gibt die Visitenkarte mit der Linken, die rechte Hand auf dem Herz und beugt sich nach vorne: «Yassir Arafat» steht da, er fährt los, während im Hintergrund die Hochzeitsmusik klingt. Der Weg zurück per Anhalter. Adi ist 57 Jahre alt. Programmierer, jetzt frühpensioniert. Ein Aussteiger. Er war lange im Militär, danach in den 1990er Jahren Gefängniswärter in einer Anstalt für Terroristen. «Damals hatten wir noch so viel Hoffnung und dachten, die Osloer Verträge bringen die Lösung.» Er sorgt sich um die massiv zunehmende Kleinkriminalität in Israel und die sozialen Zustände etwa bei den Beduinen in Israels Süden. Viele Jahre hat er Meretz gewählt. Die Partei, die diesmal bei den Wahlen den Einzug ins Parlament nicht geschafft hat. Jetzt hat er Lapid gewählt und sagt bei der Ankunft resigniert: «Es werden schwierige Wochen.» Per Taxi geht’s zurück nach Tel Aviv. Die Strassen sind leer.
Felix stammt aus Usbekistan, sieht älter aus, als er ist. Er hat zwei Töchter. Als kleiner Junge ist er mit seinen Eltern nach Israel eingewandert. Ein hagerer Mann mit rauchiger Stimme. Irgendwie ein unpolitischer Mensch. Gewählt hat er – und doch sind ihm die Themen der aktuellen Innen- und Außenpolitik fremd. Ihn ärgern Taxifahrer, die ständig die Klienten mit falschen Preisangaben hintergehen. Ein grundehrlicher, zufriedener Mann. Er ist stolz, dass seine älteste Tochter jetzt zur Universität gehen wird und macht klar: «Mein Name ist Felix. Aber wir waren Juden schon vor der Alija.»
Klimakonferenz, der Krieg in der Ukraine, die Spannungen zwischen Grossmächten oder gesellschaftspolitische, innerjüdische Themen werden nicht angesprochen in den Fahrten. Die israelische Politik im Taxi wird meist aus der Perspektive von Einkommen und Steuern betrachtet. Besatzung oder Palästinenser sind kein Thema – nur in der Abgrenzung zu «den anderen.» Die Gesellschaften leben nicht mit-, sondern nebeneinander. Jede und jeder in seiner Bubble.
Die letzte Fahrt. Es ist vier Uhr morgens. Rafael ist 73 Jahre alt. Er sieht aus wie Neil Young und redet wie Tom Waits. Mit drei Jahren aus Marokko nach Israel gekommen. «Bibi ist der schlimmste von allen Politikern. Doch lügen tun sie alle.» Rafael wuchs in Haifa auf, lebt mit seiner Frau in einer bescheidenen Einzimmerwohnung in Tel Aviv. «Bibi sagt uns Pensionierten, die Kinder sollen für euch arbeiten». «Doch ich kann nicht auf die Kosten meiner Kinder leben. Deshalb fahre ich Taxi.» In Marokko war er nie mehr. «Vielleicht kann ich eines Tages mit meinen Kindern dort hinfahren.» Und dann prescht aus ihm heraus: «Und was wird mit den Arabern in diesem Land? Und mit den Palästinensern? Das sind doch alles auch Menschen.» Und auf einmal ist es nicht mehr Jazz, sondern der Blues der Ungewissheit in einem Land voller Herausforderungen der jüngeren Zukunft. Das Land der Pioniere, der Offenheit, der Vielfalt steht vor einer Weichenstellung – einmal mehr. Wenn denn nicht alles anders kommt.
Foto:
©
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. November 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Yves Kugelmann
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DAS JÜDISCHE LOGBUCH 11.Nov 2022
Bildwahrheit im Wortfluss
Paris, November 2022. Der Herbststurm vollführt an diesem milden Nachmittag einen Goldregen auf Pariser Boulevards. Die abgefallenen Blätter auf den Strassen erwachen nochmals zu neuem Leben und...
Yves Kugelmann
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Aus dem Stadion in Yafo klingt Fangesang und beim Abendessen sitzt ein besorgter Publizist, der mit einem Bein auf dem Absprung aus Israel ist. «Wer will denn in so einer Gesellschaft noch leben?» Er erzählt von rechtem Mob auf den Strassen, von Jugendlichen, die T-Shirts mit der Aufschrift «Baruch Goldstein» tragen. Er erzählt von den vielen Dingen, die sich langsam abzeichnen, nicht sichtbar sind, von den Israeli nicht gesehen werden oder gesehen werden wollen. Er wagt szenarisch abzuschätzen, was etwa geschehen mag, wenn Itamar Ben-Gvir Polizeiminister wird.
Shai ist 45 Jahre alt, lebt in Beersheva und fährt Taxi in Tel Aviv. Es geht nach Jerusalem. Auch er habe Netanyahu gewählt, hoffe auf eine gute Wirtschaftspolitik. «Das Land ist zu teuer geworden.» Der Pakt mit den Rechtsextremen Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich geht ihm gegen die Strich: «Die Orthodoxen werden noch mehr Geld erhalten. Natenyahu hat es schon zugesagt.» Aufgewachsen ist Shai in Mizpe Ramon. Sein Vater stamm aus Mumbai, spricht Marathi, seine Mutter aus Kerola spricht Malayalam. Ein Kind von eingewanderten jüdischen Indern. Seit sieben Jahren befindet Shai sich im Scheidungskrieg mit seiner aus Marokko stammenden Frau. Seine Tochter kann er nur 40 Prozent der Zeit sehen, obwohl ihm gemäß Gericht mehr zustehe. Er hält in Rehavia an der Rechov Hanasi am Übergang zur Jabotinsky. Straßennamen, die auch in diesen Tagen Israels Bandbreite in Erinnerung rufen. Vor der Residenz von Präsident Itzchak Herzog warten die Journalisten. In wenigen Minuten wird Netanyahu mit der Regierungsbildung beauftragt. Der Spaziergang entlang der alten Kolonialgebäude kontrastiert die Gegenwart. Vorbei am ehemaligen Militärgericht unter dem britischen Mandat, am Institut des Oberrabbinats, am Albert-Einstein-Platz mit dem Van-Leer-Institut, der Villa Harun al-Rashid, zum Jerusalem Theater und vorbei an Israels Demokratie-Institut zur Jallat-Villa mit den wunderbaren armenischen Keramiken zum Termin im Archiv. Von den Geschichten in den Strassen zu jenen in den Dokumenten. Es erscheint eine Frau um die 45. Sie arbeitete einst für Premier Ariel Sharon, dann für Ehud Barak, später in der Privatwirtschaft bei Microsoft. Sie will pädagogische Programme zu Demokratie und Toleranz entwickeln, verdreht die Augen beim Namen Netanyahu. Die Aufgabe wird nicht einfach in einem Land, da sich gerade gesellschaftliche Grenzen zwischen Denk- und Sagbarem noch mehr verändern. «Wann endlich wird diese Gesellschaft zusammen finden?» sagt sie seufzend.
Yassir spricht auf der langen Fahrt von Jerusalem nach Tel Mond kaum ein Wort. Ist verschlossen. Er fragt nach dem Wohlergehen. «Ist die Temperatur ok? Wollen Sie Wasser?» Er fährt ruhig, betrachtet die anderen Autos nicht als Gegner, sondern reiht sich in den Fluss ein, lässt sich von Gehupe nicht aus der Fassung bringen, oder von rechts überholenden Autos. Angekommen, bedankt er sich mehrfach für die Fahrt. «Haben Sie eine Karte?» Yassir hat etwas Beruhigendes, ist etwa 50 Jahre alt, lächelt und gibt die Visitenkarte mit der Linken, die rechte Hand auf dem Herz und beugt sich nach vorne: «Yassir Arafat» steht da, er fährt los, während im Hintergrund die Hochzeitsmusik klingt. Der Weg zurück per Anhalter. Adi ist 57 Jahre alt. Programmierer, jetzt frühpensioniert. Ein Aussteiger. Er war lange im Militär, danach in den 1990er Jahren Gefängniswärter in einer Anstalt für Terroristen. «Damals hatten wir noch so viel Hoffnung und dachten, die Osloer Verträge bringen die Lösung.» Er sorgt sich um die massiv zunehmende Kleinkriminalität in Israel und die sozialen Zustände etwa bei den Beduinen in Israels Süden. Viele Jahre hat er Meretz gewählt. Die Partei, die diesmal bei den Wahlen den Einzug ins Parlament nicht geschafft hat. Jetzt hat er Lapid gewählt und sagt bei der Ankunft resigniert: «Es werden schwierige Wochen.» Per Taxi geht’s zurück nach Tel Aviv. Die Strassen sind leer.
Felix stammt aus Usbekistan, sieht älter aus, als er ist. Er hat zwei Töchter. Als kleiner Junge ist er mit seinen Eltern nach Israel eingewandert. Ein hagerer Mann mit rauchiger Stimme. Irgendwie ein unpolitischer Mensch. Gewählt hat er – und doch sind ihm die Themen der aktuellen Innen- und Außenpolitik fremd. Ihn ärgern Taxifahrer, die ständig die Klienten mit falschen Preisangaben hintergehen. Ein grundehrlicher, zufriedener Mann. Er ist stolz, dass seine älteste Tochter jetzt zur Universität gehen wird und macht klar: «Mein Name ist Felix. Aber wir waren Juden schon vor der Alija.»
Klimakonferenz, der Krieg in der Ukraine, die Spannungen zwischen Grossmächten oder gesellschaftspolitische, innerjüdische Themen werden nicht angesprochen in den Fahrten. Die israelische Politik im Taxi wird meist aus der Perspektive von Einkommen und Steuern betrachtet. Besatzung oder Palästinenser sind kein Thema – nur in der Abgrenzung zu «den anderen.» Die Gesellschaften leben nicht mit-, sondern nebeneinander. Jede und jeder in seiner Bubble.
Die letzte Fahrt. Es ist vier Uhr morgens. Rafael ist 73 Jahre alt. Er sieht aus wie Neil Young und redet wie Tom Waits. Mit drei Jahren aus Marokko nach Israel gekommen. «Bibi ist der schlimmste von allen Politikern. Doch lügen tun sie alle.» Rafael wuchs in Haifa auf, lebt mit seiner Frau in einer bescheidenen Einzimmerwohnung in Tel Aviv. «Bibi sagt uns Pensionierten, die Kinder sollen für euch arbeiten». «Doch ich kann nicht auf die Kosten meiner Kinder leben. Deshalb fahre ich Taxi.» In Marokko war er nie mehr. «Vielleicht kann ich eines Tages mit meinen Kindern dort hinfahren.» Und dann prescht aus ihm heraus: «Und was wird mit den Arabern in diesem Land? Und mit den Palästinensern? Das sind doch alles auch Menschen.» Und auf einmal ist es nicht mehr Jazz, sondern der Blues der Ungewissheit in einem Land voller Herausforderungen der jüngeren Zukunft. Das Land der Pioniere, der Offenheit, der Vielfalt steht vor einer Weichenstellung – einmal mehr. Wenn denn nicht alles anders kommt.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. November 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
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DAS JÜDISCHE LOGBUCH 11.Nov 2022
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Paris, November 2022. Der Herbststurm vollführt an diesem milden Nachmittag einen Goldregen auf Pariser Boulevards. Die abgefallenen Blätter auf den Strassen erwachen nochmals zu neuem Leben und...
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