oder Der freundliche Patient
Helmut Marrat
Weltexpresso (Hamburg) - Es gibt Geschichten, bei denen man später nicht mehr klären kann, ob sie wahr sind.
Jeden Morgen kommt zu ihm eine Krankenschwester. Von einem nahen Pflegedienst. Denn er ist schwerbehindert und auf Hilfe angewiesen.
Wenn man so erkrankt ist, strengt ganz besonders an, wenn eine Pflegerin ihn in Windeseile "abhakt". Natürlich versteht er nur zu gut, dass die von der Krankenkasse genehmigten acht bis zehn Minuten nie und nimmer ausreichen, um seine Wunden am linken Bein zu behandeln und dann auch noch einen neuen Verband anzulegen, aber es strengt ihn ihn ganz besonders an.
Irgendwann erkannte er dann aber eine Lösung: Wenn er es schaffte, dass die Schwester sich wohl bei ihm fühlte, sie dann unter Umständen ihre Eile vergaß. Jedenfalls einen Moment lang. Und er merkte, dass er stets freundlich sein müsste, denn es gab, so wurde ihm erzählt, viele Patienten, die ständig unfreundlich waren. Warum auch immer. Er also blieb freundlich und verwickelte die Pflegerinnen regelmäßig in ein Gespräch. Das klingt jetzt eventuell ein wenig verschlagen, doch vernünftig ist es auch. Denn nicht nur geben sich die Frauen dadurch mehr Mühe, nein, er erfährt auf diese Weise auch viel ihm bislang Unbekanntes.
Eine Schwester, heißt sie nun Mareille oder Gabi, denn er kann sich bei den dauernd wechselnden Pflegerinnen nicht mehr die Namen merken, eine nun erzählte ihm gestern oder vorgestern, sie sei unterwegs gewesen, und die Autobahn absolut heruntergekommen. Dann beging er vielleicht einen Fehler, als er erzählte, dass anfangs die Autobahnen nicht asphaltiert worden seien, sondern aus einzelnen Platten zusammengesetzt waren. Und vor ein paar Jahren habe es hier und da noch Überbleibsel davon gegeben.
Sie nun: „,Ach, Sie meinen die von Hitler.“ Er:“ Na ja.“ Sie, also, dass höre sich vielleicht komisch an, aber man dürfe diesen Hitler nicht unterschätzen. Er stimmte ihr zu. Und fügte eine Buchemfehlung an: "Anmerkungen zu Hitler" von Haffner. Schön dünn und endlich jemand, der jenem Hitler gerecht werde. Vielleicht war auch das ein wenig verschlagen. Aber er weiß bis heute nicht, ob er erfolgreich war.
Info:
„Anmerkungen zu Hitler“ von Sebastian Haffner gibt es immer noch als Fischer-Taschenbuch.Es gilt bis heute als Standardwerk der Geschichtsforschung. Haffner teilte Hitlers "Werdegang" in klare Abschnitte: von Leben, über Leistungen und Erfolge bis zu Verbrechen und Verrat.