Ein Märchen von Hans Christian Andersen mit Musik im Ahrensburger Schloss
Helmut Marrat
Hamburg (Weltexpresso) - Das Ahrensburger Schloss im südlichen Holstein ist eines der schönsten Renaissance-Schlösser Deutschlands. Auf einer etwa quadratischen Grundfläche erhebt sich der kubushafte dreistöckige Baukörper, der wie eine Aneinanderreihung dreier schlanker Giebel-Häuser wirkt. An allen vier Ecken wird dieser Baukörper durch je einen hohen Eckturm flankiert, der mit einer eleganten barocken Haube mit Laterne bekrönt ist.
Das Ahrensburger Schloss ist von einem Wassergraben umgeben und somit ein
Wasserschloss. Über eine Brücke, vorbei an zwei freundlich drohenden Löwen gelangt man in den Eingangsraum des Schlosses. Hier, geradeaus, im Hauptraum des Erdgeschosses findet die Veranstaltung statt. Ein Märchen von Hans Christian Andersen (1805 – 1875). Allzu naheliegend wäre es, zu schreiben: Das Wetter war märchenhaft schön! Tatsächlich aber ist es wunderschön frühlingshaft. Der Raum ist abgedunkelt. Etwa 60 ältere und jüngere Zuschauer sitzen auf den Stühlen, aber auch vielfach auf dem Boden: Denn es ist eine Veranstaltung für Musikschüler, Kinder, begleitet von ihren Eltern und Großeltern.
Abgedunkelt aber ist der Raum, weil dieses Märchen nicht nur vorgelesen, sondern parallel dazu auch bebildert wird. Die Bilder werden an eine Leinwand geworfen.
In meiner zweibändigen Ausgabe der „Sämtlichen Märchen“ Andersens steht das „Däumelinchen“ kurz hinter der „Prinzessin auf der Erbse“. Jeder kennt diese Prinzessin. Man verbindet eine Vorstellung mit dem Titel dieses Märchens. Und so erwartete ich, einen langen Text vorzufinden. Es handelt sich aber nur um knapp über eine einzige Seite. Das „Däumelinchen“ dagegen ist aber etwa dreizehn Seiten lang. Die Liebe, das Leben, die Kunst sind eine Frage der Intensität, nicht so sehr eine Frage der Dauer. Die Stärke des Eindrucks ist bestimmend.
Um den Eindruck dieses Märchens zu erhöhen, wird das Vorlesen des Textes (Viktoria Meienburg, die auch die Textfassung erstellt hat) bereichert durch die bereits erwähnten schönen Bilder (von Katarzyna Studzinska-Sabbagh) und durch Musik. Es dreht sich ja um Musikschüler. Genau genommen geht es ursprünglich also nicht darum, einen Text durch Musik zu ergänzen; sondern die Musiklehrer suchen nach einem Text, der ihnen die Möglichkeit gibt, den Kindern etwas zu bieten, das sie anziehen könnte.Diesen Eindruckt gewinnt man leicht. Die Kinder sind deutlich bei der Sache. Die Musik aber, die diesen Text unterbricht, mitträgt, begleitet, wird von zwei Frauen gespielt: Von Natalie Morrison am Flügel und von Christine Reiling am Cello. Beides sehr einprägsam.
„Däumelinchen“ ist ein Märchen, in dem es ebenfalls um Kinder geht; genau genommen um einen Kinderwunsch, der sich auf ungewöhnliche Weise erfüllt. Diesen Kinderwunsch hat eine Frau. In ihrer Not weiß sie sich aber keinen anderen Rat, als zu einer Zauberin zu gehen. Diese Hexe gibt ihr ein besonderes Gerstenkorn, betont, daß es sich hier nicht um ein gewöhnliches Gerstenkorn handle. Die Frau solle dieses Gerstenkorn in einen Blumentopf pflanzen – und dann abwarten. Die Hexe wird mit 12 Schillingen bezahlt. Lange zu warten aber, braucht die Frau nicht. Das Gerstenkorn, kaum einpflanzt, schießt zu einer wunderschönen Blume empor. Begeistert küßt die Frau diese Blume. Es gibt einen Knall, die Knospe öffnet sich und in ihr sitzt ein winziges Mädchen.
„Däumelinchen“ wird sie von der Frau getauft, weil sie höchstens so groß wie ein Daumen ist. Die Frau richtet nun alles liebevoll für Däumelinchen ein: Eine Walnußschale wird ihr Bettchen; sie legt ein Tulpenblatt auf einen mit Wasser gefüllten Teller, und Däumelinchen darf darauf wie in einem Boot auf einem See von einem Ufer zum anderen rudern. Rosshaare sind ihre Ruderblätter. Eines Nachts dringt plötzlich durch eine kaputte Scheibe eine häßliche Kröte in das Zimmer, direkt auf Däumelinchen zu, die unter einem Rosenblatt in ihrer Wallnußschale schläft. Die Kröte raubt Däumelinchen, will sie nämlich mit ihrem Sohn verheiraten. Die Kröte und ihre Familie leben am Ende des Grundstücks an einem vorbeifließenden Bach in einem Matschloch. Der mutmaßliche Bräutigam kann nur häßliche Krötenlaute von sich geben, als seine Mutter ihm Däumelinchen in ihrer Nußschale zeigt. Um Däumelinchen an einer Flucht zu hindern, bringt die Krötenmutter sie
auf eine Insel des Flusses. Als Däumelinchen am nächsten Morgen erwacht und erkennt, daß sie auf dem Blatt einer Seerose sitzt, bricht sie in Tränen aus. Ihre Stimmung hebt sich nicht, als die Krötenmutter ihr ihren Sohn vorstellt. Aber die Fische des Flusses werden neugierig. Und da ihnen Däumelinchen gefällt und sie Mitleid mit ihr haben, nagen sie den Stengel der Seerose durch. Nun wird Däumelinchen auf ihrer Blattinsel fortgetragen, weit fort, wohin ihr weder die Kröte noch ihr ebenso häßlicher Sohn folgen können.
Lange war Däumelinchen unterwegs. Rauschte vorbei an Wiesen, Häusern, Dörfern. Ein
Schmetterling wurde auf sie aufmerksam und bot ihr an, sie zu ziehen. Däumelinchen band ihr Miederband an den Schmetterling, und nun ging die Reise in noch größerer Geschwindigkeit vor sich. Aber das Glück währte nicht lange: Ein Maikäfer entdeckte das Gespann, griff sich Däumelinchen und flog mit ihr auf einen hohen Baum. Der Schmetterling aber tat Däumelinchen leid, denn konnte er sich von der Blattinsel nicht mehr lösen, mußte er doch verhungern! Die anfängliche Begeisterung des Maikäfers legte sich aber bald, denn allen anderen Maikäfern der Gegend mißfiel Däumelinchen, sie kritisierten an ihr herum, fanden sie häßlich, den Menschen zu ähnlich und einfach unbrauchbar. So fiel der Maikäfer von ihr ab und setzte sie unten auf der Erde auf ein Gänseblümchen und flog mit seinen Gefährten davon.
Dort bleibt Däumelinchen den ganzen Sommer, richtet sich wohnlich ein. Aber es wurde Herbst und Winter. Däumelinchen fror unendlich. Fiel eine Schneeflocke auf sie, - und es waren viele – so drohte sie gleich in dieser Schneemenge zu ersticken wie wir in einer Lawine ersticken würden. Hilfe fand sie schließlich bei einer Feldmaus, die sie in ihren warmen Bau ließ. Hier konnte Däumelinchen sich wieder erholen. Aber neue Gefahr drohte, als die Feldmaus ihren Nachbarn vorstellte: Einen schwarzen Maulwurf. Der nun, so wurde geplant, sollte Däumelinchens Ehemann werden. Der Bau des Maulwurfs war zwar beeindruckend groß, doch die Dunkelheit unter der Erde gefiel Däumelinchen ganz und gar nicht.
Doch es gab etwas Ungewöhnliches dort unter der Erde: Einen toten Vogel. Wahrscheinlich war er vor Kälte gestorben, dachte Däumelinchen. Es war eine Schwalbe, die dort wie begraben lag. Eines Tags legt Däumelinchen ihren Kopf an die Brust dieses toten Vogels – und erschrak, denn sie hörte das Herz der Schwalbe noch schwach schlagen. Däumelinchen rettete der Schwalbe das Leben, sorgte dafür, daß sie zu essen und trinken bekam. Das alles mußte heimlich geschehen, denn der Maulwurf durfte nichts davon erfahren. Die Schwalbe entwickelte wieder Kräfte und ihr Flügel heilte wieder. Sie hatte sich verletzt. Das war der Grund gewesen, weshalb sie der Maulwurf für tot halten und in seine Höhle hinunterziehen konnte. Der Frühling kam. Däumelinchen öffnete das Loch über der Schwalbe, das der Maulwurf ganz am Anfang gemacht hatte, als er Däumelinchen die Schwalbe erstmals gezeigt, ihr aber auch gleich verboten hatte, alleine zu ihr zu gehen.
Die Schwalbe erhob sich in die freie Luft und bot Däumelinchen an, sie mitzunehmen. Däumelinchen aber fühlte sich der Feldmaus und auch dem Maulwurf verpflichtet, die sie immerhin über den Winter gebracht hatten, und entschloß sich, zu bleiben. Aber sie bereute schnell. Denn jetzt sollte sie ihre Aussteuer für ihre bevorstehende Hochzeit mit
dem ihr widerlichen Maulwurf nähen. Auch die Feldmaus trieb sie unaufhörlich an, die wohl selbst gerne den an Vorräten wohlhabenden Maulwurf geheiratet hätte. Der Maulwurf kündigte dem Däumelinchen nun an, daß die Hochzeit unmittelbar bevorstehe. In ihrer Not grub sich Däumelinchen frei und zwängte sich auf die Erde.
Es war längst kein Sommer mehr. Kühler Herbstwind wehte. Sie seufzte und bereute, zu Anfang des Frühlings nicht mit der Schwalbe in die Freiheit geflogen zu sein! Da hörte sie plötzlich das vertraute „Kiwitt, kiwitt!“ der Schwalbe, der sie das Leben gerettet hatte. Jetzt war es keine Frage mehr, ob sie mitreisen wollte! Sollte sie etwa den ihr so fremden Maulwurf heiraten?! Sie schwang sich auf den Rücken der Schwalbe, band sich fest, und beide erhoben sich pfeilschnell in die Lüfte. Die Luft war eisig kalt da oben. So kroch Däumelinchen in das Gefieder der Schwalbe, nur noch ihr Köpfchen lugte heraus. Den Blick wollte sich Däumelinchen schließlich nicht entgehen lassen. Italien hatten sie schon unter sich, das Mittelmeer, Afrika. Es wurde wärmer und wärmer und angenehm.
Sie erreichten ein wunderschönes Schloss auf einer Insel inmitten eines Sees. Die Schwalbe bot ihr an, sie auf einer der kleinen Blumen am Boden abzusetzen. Und hatten sich bisher immer alle in Däumelinchen verguckt, so war jetzt sie es, die sich verliebte. Unten, in einer der Blüten, lag ein weißer Prinz, so schön, daß Däumelinchen ihre Blicke nicht von ihm wenden konnte. Und natürlich wurden die beiden ein Paar. Da der Prinz den Namen Däumelinchen nicht mochte, nannte er sie fortan Maja.
Was aber wurde aus ihrer ersten Mutter, die das Gerstenkorn von der Hexe erhielt, aus der die Wunderblume wurde, in dessen Knospe Däumelinchen saß? Wir erfahren es nicht. Es ist ein Stationenmärchen. Däumelinchen reist von Ort zu Ort, von Helfer und oft gleichzeitig dann Bedroher ihrer Freiheit weiter, weiter. Nur die Schwalbe kehrt wieder. Hilft selbstlos, wie auch Däumelinchen ihr selbstlos geholfen hatte. Diese Schwalbe kehrt nach unserem Winter aus Afrika wieder nach Dänemark zurück. Sie könnte nun auf die Frau stoßen, die voll Trauer sein wird, weil sie ihr Kind Däumelinchen verloren hat.
Aber Andersen spannt den Bogen nicht in dieser Weise zurück. Die Frau war, wie das Gerstenkorn selbst, nur ein Beginn. In Dänemark trifft die Schwalbe auf einen Mann, der sein Fenster genau unter ihrem neuen Schwalbennest hat und so ihrem „Kiwitt, kiwitt!“ lauschen kann. So erfährt er von dieser Geschichte. Andersen sagt nicht, wer dieser Mann sei; aber wir können vermuten, daß er sich selbst mit diesem Mann gemeint hat, denn er sagt von diesem Mann, daß er Märchen erzählen könne …
Die Bilder, die Musik des Cellos, auch des Flügels, und nicht zuletzt die Vorlesung bleiben im Gedächtnis; auch das Schloss und das "märchenhafte" Frühlingswetter.