zentralrat der JudenDAS JÜDISCHE LOGBUCH, August 

Yves Kugelmann

Athen,(Weltexpre so) - Die Akropolis ist geschlossen. Zu heiß. Hell erleuchtet von der Sonne, ist sie stets im Blick der Stadt. Dort hat sich die Demokratie durchgesetzt, im Umfeld einer polytheistischen Religion. Der Parthenon ist der griechischen Göttin Athene gewidmet und die Akropolis eigentlich ein Tempelberg, der die Menschheit irgendwie in die Zukunft katapultierte mit einem 2500 Jahre alten Demokratieverständnis, das Philosophen wie Aristoteles, Platon, Sokrates bis heute prägen. Was in Athen für die Menschheit leuchtet, ist in Jerusalem seit Jahrhunderten Quell von Mord, Totschlag, Unfreiheit und Machtpolitik.

Jerusalems Tempelberg hat sich vom Joch der Religionen nie befreien können und steht auch in der Gegenwart immer wieder am Ausgangsunkt von Konflikten und nicht am Endpunkt von Lösungen. Religiös und politisch aufgeladen symbolisiert der Ort in diesen Tagen religiös konnotierten nationalistischen Fundamentalismus. Der Kampf um Israel ist einer ums Judentum. Der Kampf entfachte sich an einer Justizreform, die keine ist. Effektiv geht es um die jüdische Deutungshoheit: Wer ist jüdisch, was ist jüdisch, wo ist jüdisches Leben möglich? Die Faschisten in Israels Regierung wollen das neu definieren. Netanyahu oder auch Israels Botschafterin Ifat Reshef in Bern nennen das, was wir in Israel derzeit sehen, «eine lebendige Demokratie». Mit rhetorischen und demagogischen Turnübungen verhehlen sie, dass Israels Faschisten die autokratisch ethnisch definierte Theokratie anpeilen. Netanyahu, Reshef und Co. folgen längst dem Lehrbuch zur Abschaffung der liberalen Demokratie, wie es extreme Strömungen in den USA oder Europa wollen. Dass die meisten jüdischen Organisationen außerhalb Israels zuschauen, schweigen und mit falscher Solidarität zulassen, dass vor ihren Augen die freiheitliche Gemeinschaft von nationalistischen Faschisten übernommen wird, die gegen das stehen, wofür die meisten Diaspora-Repräsentanten jeweils geworben haben, zeigt wie verlogen, abhängig letztlich der Basis fern die Institutionen waren und wie blind sie geworden sind. Ein Großteil der Jüdinnen und Juden werden künftig diskriminiert werden können. In Israel sind Juden und Juden längst nicht mehr gleichberechtigt. Das so genannte Rückkehrrecht soll neu formuliert werden, Halacha noch mehr Staatsgesetz werden, das nicht orthodoxe Jüdische zum Zweitklassenjudentum degradiert werden und so fort.

Allenthalben stehen weltweit Gewaltenteilung, Grund- und Freiheitsrechte zur Disposition. In den USA hat innert zweier Jahre über die Hälfte der Bundesstaaten die Abtreibung kriminalisiert, den Index von Schul- und Kinderbüchern entlang religiöser monotheistischer kreationistischer Lehrmeinungen erweitert, in Europa wollen Parteien mit völkischer oder NS-Ideologien Regierungen übernehmen, die multilaterale und offene Weltgemeinschaft abschaffen oder allenfalls auf Wirtschaftsdeals begrenzen. Schon immer haben Fundamentalisten in Israel versucht, ihre Ideologie zur Staatsdoktrin zu machen. Schon immer gab es heiße Debatten in Israel um Busverbote am Schabbat, Zivil- und Familienrecht, Werbeverbote mit Frauen als Motiv und so fort. Erstmals in Israels Geschichte ist das nun Regierungsprogramm und nicht wie vor Jahren in einer extremistischen, nicht mehrheitsfähigen Kahane-Partei parkiert und stellt die jüdische Gemeinschaft vor ein Paradox: Die Mehrheit der Israeli unterstützt diesen Faschismus, da sollten die wenigen Hunderttausend Gegner in der Protestbewegung nicht darüber hinwegtäuschen. Die Mehrheit und die weitgehend schweigenden Juden außerhalb Israels stehen der Entwicklung entgegen und scheinen immer noch paralysiert vor sich herzuwursteln, nicht merkend, dass ihre eigene jüdische Selbstdefinition längst von Israels faschistischer Regierung okkupiert worden ist, die mit Endzeitverheissungen, Apokalypsen und Identitätspolitik Israels Zukunft abschaffen will. Der «jüdische Staat» ist längst zu einer theokratischen Drohung gegen Juden weltweit geworden, weit entfernt von Herzls liberaler Vision «Judenstaat». Für die Abschaffung eine Demokratie benötigt es kein Amalek, keine Antisemiten oder äusseren Feinde Israels. Es reicht Selbstverblödung, Schweigen, Inkompetenz, mangelnder Respekt vor jenen, die das Land aufgebaut haben. Der Tempelberg von Athen hat nie nach Jerusalem gestrahlt, der Hellenismus ist gescheitert, die Demokratie in Israel nie säkularisiert und somit die Moderne nie verinnerlicht worden und der Glanz einer goldenen Kuppel falscher Schein statt richtiges Sein.

Foto:
©Zentralrat der Juden

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. August 2023 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.