ardDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Mitte August

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Der Balkon von Zimmer 117 leuchtet in der Morgensonne. Hier hat Theodor Herzl vor 125 Jahren beim ersten Zionistenkongress Reden, Tagebucheinträge und Briefe geschrieben. Vor einem Jahr feierte die Welt Herzls Vision von 1897. Ein Jahr später liegt sie in Trümmern und ein jüdisches Drama spielt sich vor den Augen der Welt ab. Die Dekonstruktion der jüdischen Idee nimmt vielleicht unumkehrbare Dimensionen an und wirft sie in biblische Zeiten zurück – zurück hinter die großen Errungenschaften auch der jüdischen Moderne.

Die biblischen Familiendramen werden aktueller denn je. Auf einmal wird der Bruderzwist von Kain und Abel einer zwischen Jonathan und Binyamin Netanyahu. Der ältere Bruder wollte die jüdischen Geißeln einer Flugzeugentführung 1976 in Entebbe befreien und kam ums Leben. 47 Jahre später macht der jüngere Bruder Binyamin die Juden weltweit zu Geißeln seines selbstsüchtigen Wahnwitzes mit Komparsen aus biblischen Zeiten und gibt dafür die jüdischste aller Ideen auf: die Freiheit.

Der Streit von Kain und Abel könnte an Symbolkraft nicht überboten werden. Diesmal verrät der jüngere Bruder die jüdische Idee. Die gespaltenen Lager Israels kämpfen um Gott, Land und Nation statt um Gesetz, Säkularisierung und Demokratie. Glauben prallt auf Vernunft, ungleiche Regeln auf Wirklichkeit und sie bilden eine fatale Asymmetrie in einem kleinen Land, die weit darüber hinaus wirkt. Schon bei Kain und Abel ging es um Land und symbolisch um die «richtige» jüdische Idee. Herzl hatte eine utopische Vision, die 1948 mit der Gründung des Staates Israel Realität wurde. Netanyahu rückt sie in weite Ferne. Da wirkt an diesem Tag der leere Balkon am Rhein wie die umgekehrte Vision Herzls von einem seit Staatsgründung dekonstruierten Märchen.

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©tagesschau

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. August 2023 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.