Die Gegenwart ist verbaut durch Gleichgültigkeit und die Schwerlast des Vergessens und Verdrängens
Heinz Markert
Ein Verwandter meines Jahrgangs, zwei Jahre jünger – was aber ehemals viel bedeutete -, wollte mir kurz vor seinem Ableben weismachen, ein Konstantin Wecker sei doch höher einzuschätzen als Dylan. Welch‘ Fehleinschätzung. Bob Dylan ist im Verhältnis zu jenem ein Gigant. Bis in alle Tage.
Im Herbst 1966 hörte unsere nach Borkum auf Exkursion - mit einem gewissen Unterricht nebenher - gereiste Klasse ohne Unterbrechung die von den im Kanal verankerten Piratensendern Radio One und Radio Caroline herüberklingenden Songs ‚Like a Rolling Stone‘ von Dylan und ‚I can’t get no satisfaction‘ von den Rolling Stones. Oh Mann, was waren wir privilegiert, in die Zeit jener Möglichkeiten und Augenblicke hineingeboren worden zu sein.
Es war eine vom gängigen Unsinn der Zeiten fruchtbar enthobene Zeit
Die frühen bis mittleren Sechziger waren eine relativ kurze Ära der Erquickung einer Jugend und eine diesseitige Offenbarung. Wir haben den neuen Geist sehnsuchtsvoll eingesaugt. Die Periode des damaligen Fortschrittsprozesses haben wir, ohne uns dessen recht bewusst zu sein, rasend schnell durchlaufen. Es war eine Zeitenwende. Ein neuer Typ Mensch hatte die Welt erklommen. Neuerdings lassen sich vermehrt ziemlich junge Männer (vorzugsweise) mit Beatles-Mützen oder Beatles-T-Shirts in öffentlichen Verkehrsmitteln erblicken. Die Beatles formten sich schon gegen Ende der Fünfziger Jahre. Sie sind bis heute Meilenstein.
Ihr ‚A Hard Days Night‘ bezog sich auf das Rackern der Älteren, ohne einen Begriff von sich selbst als Individuen zu erlangen, es wurde ironisch umdefiniert von einer Band, die vom jüngsten Volk bestürmt wurde wie keine andere nachher mehr. A Hard Days Night war auch ein gelungener Filmtitel mit den Beatles von 1963. Unsäglich sind jene Regressionen, die den mehr oder weniger aktuellen Typ gegenwärtig konterkarieren, denn nichts ist so hartnäckig als das Ressentiment gegen das Frommendere eines Lebens und einer furchtbar männlich desolaten Vita - wie der eines Merz.
Rührt Euch und macht was los, lautet der Auftrag
Man muss es als Gnade bezeichnen, in die neue Zeit hineingeboren worden zu sein, auch wenn das nach Hybris anmutet. Zu erinnern sei an die Straßen von San Francisco, auf denen im Summer of Love Jugendliche mit freiem Mut zu einer genießerischen Lebenseinstellung - vor allem um sie selbst zu sein - und im fliegenden Laufschritt mit länger gewordenen Haaren - begannen breit die Straßen einzunehmen, wovon die auffordernde Hymne ‚Let’s go to San Francisco‘ weltweite Kunde verbreitete. Gott sei’s gedankt, dass wir Jugendliche in diese grandiose Zeit hineinversetzt wurden. Und wir den Aufstieg der Beatles miterleben konnten. Gegen alle bisherigen Zeitläufte und Einstellungsmuster gewendet. Die Welt ward neu mit den Beatles und Rolling Stones, mit Bob Dylan and The Who.
Wer die begnadeten Gruppen noch immer abspielt und im Fühlen und Trachten fortpflanzt, hat bessere Chancen, die vollen schwarzen-braunen-oder-blonden Haare länger ihrer und seiner zu beanspruchen. Aber nur, wenn am Bewährten der goldenen Jahre festgehalten wird. Gegenhalten bleibt Losung. Bloß nicht den Verhältnissen zu Kreuz kriechen. Zurzeit wird auf One die 70er-Jahre-Krimi-Serie ‚Die Straßen von San Francisco‘ wiederholt. Was tut sich da ein Gegensatz zu den deutsch-öffentlich-rechtlichen Hervorbringungen auf. Wie die Titelmelodie schon den krassen Unterschied zwischen Weltläufigkeit und europäischer Schmalspur statuiert und Elemente der Melodie genau auf den Punkt gebracht werden, indem sie auf Sendung wiederholt passgenau einsetzen. Das hat Klasse.
Was der ganzen 60er-Generationen möglich wurde war haargenau auf die Zeit der frühen Jahre abgestimmt. Es war die für jugendliche Verhältnisse privilegierendste Ära aller Zeiten.
‚Herumhängen mit Bob Dylan‘
Der gleichlautende Artikel der FR vom 2. November zum Erscheinen des Bands „Mixing up the Medicine‘ von M. Davidson und P. Fishel zur Bob-Dylan-Vita wurde zum Anlass dieser Zeilen und ließ Vergangenes, Geglücktes, Erhabenes oder im Gang der Dinge auch im Einerlei der Zeit Untergegangenes wiederaufbrechen. Interessant ist u.a. der Aspekt, dass das bezaubernde ‚Hey Mr. Tambourine Man‘ schon zu Dylans ganz frühem Songrepertoire zählte. Der Junge war also ganz früh dran, pro Eigenem und zum Wohle seiner Zeit und eines neuartigen Verständnisses dessen, was ein bewußtes Leben ausmacht. Er ist ein gewaltiger des menschlichen Geistes.
Foto:
Heinz Markert
(Obige Kette wurde 1967 im Pudding Explosion erworben)