Yves Kugelmann
Paris, (Weltexpresso) - Auf dem Elektrizitätskasten am Eingang zum Jardin Luxembourg klebt ein Plakat des inzwischen zehn Monate alten Babys Kfir Bibas. Zusammen mit seinem vierjährigen Bruder Ariel und seiner Mutter Shiri ist der kleine Junge aus dem Kibbuz Nir Oz entführt worden. Sein Vater Yarden wurde ebenfalls während der Hamas-Angriffe auf Israel am 7. Oktober entführt. Aufnahmen von der Entführung der Familie zeigen eine verängstigte Shiri, die ihre beiden Söhne umklammert, als sie weggebracht werden. Yarden erschien in einem anderen Video mit einer offensichtlichen Kopfverletzung. Immer wieder bleiben Passanten stehen, blicken auf das Foto, schauen im Netz auf die Geschichte und laufen in den Park. Inzwischen hat die Hamas den Tod des kleinen Kfir bekannt gegeben. Bisher ist von israelischer Seite nichts bestätigt.
Im Musée du Luxembourg 100 Meter weiter ist anlässlich des 50. Todestags von Pablo Picasso eine Ausstellung über die Geschichte der Freundschaft des Künstlers mit der Kunstsammlerin und Schriftstellerin Gertrude Stein zu sehen. Im Zentrum hängt die grosse Installation «Ten Portraits of Jews of the Twentieth Century». Die Serie von zehn Gemälden stammt aus dem Jahr 1980. Zu sehen sind Sarah Bernhardt, Louis Brandeis, Martin Buber, Albert Einstein, Sigmund Freud, George Gershwin, Franz Kafka, die Marx Brothers, die israelische Premierministerin Golda Meir und Gertrude Stein. Die «Porträts der Juden des 21. Jahrhunderts» werden Kfir und die weiteren israelischen Geiseln sein. Narrative verändern sich. Opfer werden ikonisiert. Das Leid wird popularisiert und ästhetisiert. Dilemmata in diesen Tagen, wenn an Opfer und Krieg erinnert wird.
Im Jardin de Luxembourg gibt es keinen Schatten mehr. Die goldenen Blätter liegen am Boden und leuchten in der Sonne. Es ist der Gang der Dinge. Leben und Tod. Strahlender Tod. Doch Terror und Krieg sind anders. Die Opfer der Massaker, die geschändeten Leichen, die Toten der Kriegshandlungen liegen in grauer Asche, in Obduktions- und Leichenhallen. Der menschengemachte Lauf der Dinge ist anders. Grau in grau, getränkt in Blut, Barbarei und Horror. Die grosse Retrospektive von Mark Rothko in der Fondation Louis Vuitton könnte nicht passender sein. Nach den prächtigen farbintensiven Gemälden werden diese von Raum zu Raum immer dunkler, um im letzten Raum, grau in schwarz in Dialog mit Albertos Giacomettis Skulpturen zu treten. Ohne Gesichter, ausgemergelt stehen sie aufrecht im Raum – offen für Interpretation. Wesentlich. Als ob die beiden Künstler im posthumen Dialog die Grauen der fortwährenden Gegenwart vorwegnehmen und als Kunst eingraviert haben wollten.
Dinge ändern sich. Die Kerzen zu Chanukka erhalten mit einem Male eine andere Bedeutung in diesen Tagen. Sie erinnern nicht mehr an den Aufstand der Makkabäer, das Wunder von Chanukka. Sie werden zu Erinnerungskerzen im Schiwa-Jahr nach dem 7. Oktober. Millionen Chanukkaleuchter weltweit leuchten der Tragödie entgegen und das «Maos Zur» («Meine Rettung») erhält eine neue Bedeutung. Doch irgendwann werden Symbole, Rituale und Aktionen nicht mehr ausreichen. Irgendwann darf dieser zerstörerische Konflikt nicht mehr Ideologen und jenen überlassen werden, die damit ihre eigene Agenda bedienen. Irgendwann werden die betroffenen Menschen paritätisch über Lösungen sprechen und verhandeln müssen – die Diaspora aller Parteien sollen dazu den Weg dazu ebenen und nicht das Gegenteil.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. Dezember 2023
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.