Geschichten von und mit Gedichten
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - In einer der ersten Nächte nach der Vertreibung1945 aus der Tscheschoslowakei träumte ich von der Rückkehr in die alte Heimat. Aufgewühlt von dem Geschehen in meinem Kopf verspürte ich das Bedürfnis, aufzuschreiben, was für einen Streich mir die Erinnerung gerade gespielt hat. So entstand 1946 im Halbdunkel einer Notunterkunft in Baden-Württemberg eine kurze Geschichte in Versen, die nach der üblichen Lagerzeit einen Platz in einem kleinen Gedichtband gefunden hat.
Ein Exemplar landete Jahre später als Geschenk bei einer Kärntner Familie, in deren Haus am Wörther See wir im Sommer häufig zu Gast waren. Dass der Sohn Gefallen an dem Geschenk für die Mutter gefunden hat, erfuhr ich erst kürzlich von ihm am Telefon zusammen mit der Nachricht, dass die Mutter gestorben sei. Bei der Gelegenheit rückte der Sohn damit heraus, dass ihm eines meiner Gedichte seit langem am Herzen liege, weil es viel über sein Verhältnis zu seiner Mutter aussage. Ob ich damit einverstanden sei, dass er es am Begräbnistag bei der Trauerfeier vorträgt.
Ich war gerührt und gab zu bedenken, ob meine Verse in der Welt von heute noch Bestand hätten. Der Sohn ließ den Einwand nicht gelten. So bekamen die Trauergäste aus seinem Mund zu hören, was ich vor zwei Menschenaltern zu Papier gebracht hatte:
„Ich war heut’ Nacht im Traum daheim / und sah der Mutter liebes Bild. / Mir war, als hätte heller Schein / das traute Antlitz eingehüllt. / Ich ging im Traum durch tiefen Schnee, / doch hinter mir blieb keine Spur, / mir war, als zög’s mich in die Höh’, / beinahe so, als schwebt ich nur. /Dann war die Mutter wieder da, / ging neben mir im gleichen Schritt, / die alte Zeit ward wieder nah, / ging ruhig mit uns beiden mit. / Um uns der Schnee, so flaumig weich./ Im Dunkel vor uns schwach ein Licht. / Ich sah mich um – / wie war so bleich der Mutter liebes Angesicht. / Nicht weinen, Mutter, lass’ dir Zeit. / Siehst du das Licht dort, wie es blinkt? / Ganz nahe uns die Heimat winkt. / Wir stapften weiter, Schritt für Schritt, / durch tiefen Schnee dem Lichte zu. / Die Hoffnung aber sie entglitt / in finstre Nacht und Grabesruh’.“
Mehr als vierzig Jahre hat es gedauert, bis ich wieder heimatlichen Boden betrat. In meinem Tagebuch hatte ich kurz vor dem endgültigen Abschied verbittert notiert: „Wie ein kostbares Geschenk erlebe ich die letzten Sommertage daheim. Sollte mein Weg mich nach Jahren vielleicht noch einmal hierher führen, dann werde ich nur zu Besuch sein, daheim sein werde ich hier nie mehr.“
An der Seite meiner Frau durchquerte ich im Auto mein Geburtsland, hin und her gerissen von den monumentalen Bildern der böhmischen Landschaft und dem Rumoren in meinem Inneren. Müde und ernüchtert erreichten wir am Abend den kleinen Ort Adamstal im Nordosten des Landes, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als bewegte ich mich zwischen den verstaubten Kulissen eines abgesetzten Bühnenstücks. Würde ich jemals die richtigen Worte finden für dieses Wiedersehen nach so langer Zeit?
Am Ende der Reise in die Vergangenheit entstand ein Gedicht mit dem Titel „In der alten Heimat“: „Lange suche ich im grauen Gesicht / der engen Gassen / nach einem Zeichen der Vertrautheit, / aber die Steine / sehen mich teilnahmslos an. / Kalt fährt es mir unvermittelt durchs Herz - / hier hast du nichts mehr verloren. / Draußen dann vor der Stadt / das unvergleichliche Bild / der böhmischen Landschaft. / Nirgendwo sonst entflammt / der September das Ahornlaub / so in leuchtendem Rot / verströmt so verschwenderisch / die Erde ihr Blut an den herbstlichen Himmel. / Wie in der Dünung eines gütigen Ozeans / wiegen rostfarbene Felder / sich von Hügel zur Hügel, / und der frische Acker durftet / wie in den Tagen der Kindheit. / Behutsam legt die Erinnerung / ihren Arm um mich / und lässt mich die Kälte / des Abschieds vergessen.
Als Beigabe zu dem fulminanten Werk der Historiker Eva und Hans Henning Hahn über „Die Vertreibung im deutschen Erinnern“ (Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, München, Wien, Zürich) überquerte das Gedicht die böhmische Grenze und landete mit der tschechischen Ausgabe auf dem Tisch des Historikers Michal Téra, dem es den Atem verschlug, wie er gegenüber Eva Hahn bekannte. In einem Brief an die Co-Autorin schrieb er, das Gedicht bringe das gleiche Erlebnis der Heimatlandschaft zum Ausdruck, das auch er in sich trage. Es reiße die gedankliche Mauer zwischen Deutschen und Tschechen vollständig nieder und erfülle ihn mit der Gewissheit, dass es sich bei der beschriebenen Landschaft um unsere gemeinsame Heimat handle.
So einen Schluss hätte ich mir für diesen Artikel gewünscht, doch „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ lässt Goethe Mephistopheles im „Faust“ räsonieren. Mussten Russen und Ukrainer sich nicht sagen, dass sie die gleichen Wurzeln haben, statt aufeinander loszugehen und sich mit der vagen Aussicht auf ein späteres Miteinander in einer gemeinsamen Heimat zu trösten?
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