Berlin.deDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Mitte Dezember

Yves Kugelmann

Berlin (Weltexpresso) -  In Deutschlands Hauptstadt ist es sehr früh dunkel. Das politische Berlin ist mit der Abnahme des Haushalts beschäftigt. In der Spree spiegeln sich Gebäude und Lichter an diesem glasklaren Abend. Doch vieles ist seit dem 7. Oktober nicht mehr so klar. Für viele hat sich die gesellschaftliche Tektonik verändert und wer dachte, die Hamas-Barbarei würde den Diskurs über Israel und Antisemitismus klarer machen, täuschte sich womöglich. Beide stehen wieder mal neu zur Disposition und selbst im Staatsraison-Deutschland wackelt die Solidarität angesichts der verheerenden Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung, die längst auch von Jüdinnen und Juden weltweit mit Sorge beobachtet wird.

Zum einen, weil viele sich dem Humanismus verbunden sehen und diesen nicht von Kausalitäten abhängig machen. Zum anderen, weil diese Situation den Bumerang für Zukunft bilden könnte. Zugleich gibt es viele, die darüber hinwegsehen, so, wie viele Palästinenser die blutrünstigen Massaker der Hamas und Leichenschändungen negieren, relativieren oder legitimeren. Die Menschen ziehen sich in ihre Gemeinschaften zurück, werden zum Teil militanter, und Analysen finden kein Gehör mehr. Dialog gibt es schon gar nicht mehr, auch dort nicht, wo er Probleme entschärfen anstatt verstärken könnte, an US-Universitäten, in interreligiösen Organisationen oder im Kulturbereich.

Verhärtung, Verpolitisierungen, Stigmatisierungen okkupieren einen Konflikt weit über diesen hinaus und nehmen wiederum Einfluss auf diesen. Nahost-Eskalationen waren schon immer der Trigger für Antisemitismus. Wie ein Herpes-Virus lungert er, artikuliert sich und taucht wieder unter. Antisemitismus ist immer da, verschwindet scheinbar, wenn er sich nicht artikuliert. So wahr ist, dass Juden nicht für Antisemitismus verantwortlich sind, so sehr müssen jüdische Organisationen erkennen, dass sie Antisemitismus nicht bekämpfen können – und auch nicht sollen. Antisemitismusbekämpfung ist über Jahrzehnte zu einer Art Selbstverständnis geworden, dem das jüdische Leben untergeordnet wird. Die Ereignisse nach dem 7. Oktober zeigen ebenso, dass die meisten Antisemitismus-Erhebungen jüdischer Organisationen der Vergangenheit inzwischen als entlarvter Schwachsinn in der Landschaft stehen, mit unzulänglicher Methodik, die meist antisemitische Vorfälle, aber nicht Antisemitismus misst, als ob Herpes-Befallene nur dann gezählt würden, wenn das Virus in Erscheinung tritt.

Die Flut an Initiativen für «Hasbara» (für die einen Aufklärung, für die anderen Propaganda), Antiantisemitismusprojekte, Philosemitismus-Umarmungen ist eine verständliche Kurzschlusshandlung, die zum einen die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit belegt, und zum anderen, dass die nüchterne Auslegordnung zur aktuellen Situation oft unter falschen Kniefällen versäumt wurde. Das Gemeinde- und das zivilgesellschaftliche Judentum haben immer kleinere Schnittmengen, was zu einer innerjüdischen Distanzierung führt, die zwar emanzipatorische Qualität hat, aber nicht immer zielführend ist. Die Wochen nach dem 7. Oktober zeigen, wie weltweit Antisemitismus dekonstruiert und zugleich Antisemitismus überall gesehen wird in einem konfrontativen Diskurs, der nicht mehr auf die Sache selbst, sondern nur noch auf die Verteidigung derjenigen eingehen wird. Die Stimmen der anstrengenden Mitte, der fluiden Vernunft, des beschwerlichen Dialogs wollen zu oft nicht mehr gehört und Lösungen der Konflikte abseits des Nahostkonflikts nicht mehr angepeilt werden.

In der Psychologisierung der Situationen mag vieles erklärbar sein. Sinnvoller wird es damit aber nicht. Denn am Schluss gilt: Wenn auf Adornos «Gerücht gegen die Juden», wenn auf die Konspiration Antisemitismus nur noch irrational oder gar mit Gegenkonspirationen eingewirkt wird, dann bleibt im Ungefähren, was absolut und bisweilen eliminatorisch ist. Judenhass kann auch aus Selbstschutz nicht zur jüdischen Selbstaufgabe, sondern nur eine des Gesellschaftsvertrags werden. Der Schutz der Jüdinnen und Juden ebenso wie aller Menschen ist Aufgabe der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Das heißt aber auch, der Rückzug ist keine Lösung, sondern die Partizipation. Antisemitismusverhinderung darf nicht Primat einer vielleicht sogar westlichen Ideologie werden, sondern er muss Primat aller werden gerade auch dort, wo der Nahostkonflikt sich wie ein Keil zwischen Menschen stellt. Im Moment ist Antisemitismus – anders als bei wissenschaftlich erforschten Ergebnissen – wieder einmal zu oft geleugnet, Meinungssache, Kampfbegriff oder Drohmittel – und somit missbraucht bzw. dekonstruiert. Zu sehr sind der Antisemitismus und Antiantisemitismus vereinnahmt worden über die klare Benennung von Judenhauss hinaus. Wenn Antisemitismus genauso wie anderes ständig zur Verhandlungsmasse, inflationär angewendet, immer wieder neu definiert wird, im Ungefähren bleibt und letztlich dekonstruiert oder als politisches Mittel eingesetzt wird, wird die Bekämpfung des Judenhasses eine Sisyphos-Aufgabe bleiben, bei der der Berg, der Stein und Sisyphos selbst immer wieder zur Disposition gestellt werden. Das wäre fatal.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. Dezember 2023
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.