stadionTheologische Impulse (142)

Thorsten Latzel

Rheinland (Weltexpresso) - Wenn man das Leben Jesu einmal fußballerisch betrachtet, muss man sagen: Jesus spielte permanent auswärts. Nach seinem vierzigtägigen Trainingslager in der Wüste war er eigentlich immer unterwegs: ständig irgendwo draußen. Er war am See Genezareth bei den Fischern, in den Häusern von Frommen und Nicht-so-Frommen, bei Maria, Martha und Lazarus, bei Petrus und seiner Schwiegermutter (Frau Petrus wird auffälliger Weise nicht erwähnt), in Synagogen, im Tempel, an Brunnen, auf Bergen, auf dem Weg, auf dem Feld, selbst in Samaria – also für uns Rheinländer/innen so etwas wie das tiefste Bayern. Sein einziges Heimspiel in Nazareth fand kein wirklich gutes Echo. „Ein Prophet gilt nichts im eigenen Land.“

Fußballerisch formuliert war Jesus ein Straßenkicker, einer, der mit allen trainierte, spielte, sprach und aß, die er traf. Das Leben Jesu ein einziges großes „Auswärtsspiel“: Ein Ausdruck seiner unbedingten Nächsten- und Fernstenliebe.

Das griechische Wort „philoxenia“ heißt wörtlich „Liebe zum Fremden“ und steht für „Gastfreundlichkeit“. Das interessante dabei ist: Jesus war gerade nicht Gastgeber, wie wir das gerne immer sein wollen: „Bloß niemandem etwas schuldig bleiben.“ Auch als Kirche sind wir gerne kuschelig zu Hause, mehr „Herberge“ als wanderndes Gottesvolk. Da behält man alles schön unter Kontrolle. Nein, Jesus war da anders drauf. Er ist immer permanent Gast gewesen, hat anderen gleichsam den Heimvorteil gewährt. Er hat dort gespielt, wo sein Gegenüber den Rasen kannte, wo er oder sie Fans, Familie und Freunde hatte, nicht reisen musste.

Das vielleicht schönste Beispiel dafür, wie Jesus „Heimvorteil“ gewährt, ist die Geschichte vom Zöllner Zachäus: Da kommt also Jesus, der berühmte Wanderprediger, der religiöse Superstar durch die Stadt Jericho und Zachäus würde ihn allzu gerne sehen. Doch Zachäus hat gleich zwei Probleme: erstens ist er unbeliebt, weil er wie die meisten Zöllner korrupt ist und zu viel abkassiert. Und zweitens ist er klein, ein Hänfling, ne halbe Portion. Keine Chance, Jesus zu sehen. Und was macht man, wenn man als Fan keine Karten bekommt und Messi, Ronaldo, Mbappé doch einmal sehen möchte? Man wird erfinderisch und sucht sich einen Platz, wo man irgendwie gute Sicht hat. Zachäus steigt auf einen Baum. Und dann passiert es: Jesus bleibt just unter seinem Baum stehen. Er sieht hinauf zu Zachäus. Sieht ihn dort oben sitzen. In seiner luftigen Einsamkeit. In seiner Verletzlichkeit und Sehnsucht, die ihn dazu bringt, dass er sich vor allen zum Affen macht.

Und dann, dann sagt Jesus diesen einmalig wunderschönen Satz: „Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.“ Jesus macht sich zum Gast, zum Auswärtigen, zum Fremden. Und schenkt Zachäus vor allen Leuten die Würde, Gastgeber zu sein. Jesus macht sich zum Gast. Und hilft Zachäus so, dass Zachäus bei sich selbst einkehren kann. Denn was hilft dir die schönste Villa in Jericho, wenn niemand bei dir zu Besuch kommt? Was wäre das Camp Nou in Barcelona, der Parc des Princes in Paris, die Merkur-Spielarena in Düsseldorf – wenn keine Teams von auswärts kämen? Was wäre die schönste Party zu Hause und kein Gast taucht auf? Ein Gast verleiht mir die Würde, Gastgeber sein zu können. Er hilft mir, dass ich selbst bei mir einkehren kann. Er schenkt mir Heimvorteil.

„Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.“ Mit diesem Wort hat Jesus für Zachäus die Pforten zum Himmel geöffnet. Er steigt eilend von Baum herab, nimmt Jesus mit Freuden auf. Und am Ende der Begegnung heißt es: „Zachäus aber trat herzu und sprach zu Jesus: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“ Hier hat jemand wirklich etwas verstanden. Zachäus lernt freigiebig, mitfühlend, selbstkritisch zu sein – weil Jesus sich von ihm bewirten und beschenken lässt.

Wenn wir also jetzt die Fußball-EM bei uns haben, dann beschenken uns die Gäste mit ihrem Kommen. Sie verleihen uns die Würde, Gastgeber zu sein. Und wie schön und heilsam wäre es, wenn sich auch bei uns solche Zachäus-Momente ereignen? Wenn ich von meinem eigenen Baum heruntersteige, meine innere Selbstverzwergung überwinde und die Freiheit und Großherzigkeit des Gotteskindes in mir entdecke: „Siehe, die Hälfte von dem, was ich habe, brauche ich gar nicht.“ Und wie schön und heilsam wäre es, wenn wir als Menschen in der Nachfolge Jesu Christi anfangen, wie er auswärts zu spielen. Wenn wir aus unserer Komfortzone herausgehen, den anderen Heimvorteil gewähren, dort mitspielen, wo sie zu Hause sind. Ständig irgendwo draußen. Am Rhein-Ufer bei den Anglern, Joggern und den Obdachlosen, in den Häusern von Frommen und Nicht-so-Frommen, bei Ayse, Kolja, Levi, Lisa, Pierre und Tom, bei unserem Nachbarn Peter und seiner Schwiegermutter, um die er sich kümmert, weil seine Frau nicht mehr da ist, in der Kirche, der Synagoge, in Moscheen, an Brunnen, auf Bergen, in Fußgängerzonen, auf dem Feld und – selbst im tiefsten Bayern.

Ein alter Spruch sagt ja: Wenn ein Gast kommt, kommt Gott. Ich glaube eher: Gott ereignet sich, wo wir einander Gastfreundschaft schenken. Wo wir Brot und Segen miteinander teilen. Das ist vielleicht eine der kürzesten Definitionen des Glaubens: „Christ sein heißt, miteinander essen können.“ Ganz gleich, ob nun mit Baguette und Camembert oder mit Schwarzbrot und Harzer Käse. Oder um es mit dem Hebräer-Brief zu formulieren: Am Ende der EM haben manche von uns vielleicht – ohne es zu wissen – Engel beherbergt.

Andere von uns sind vielleicht wiederum – ohne es zu wissen – für andere zum Engel geworden.

Entscheidend ist, ob wir in der Nachfolge des einen Straßenkickers Jesus aus der unbedingten Menschenliebe Gottes leben. Und die Frage, wer Gast oder Fremder ist, ist dann am Ende nebensächlich, wenn Christus uns begegnet und sagt: „Mensch, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.“

Weil Gott selbst uns dann Heimvorteil gewährt.

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