Michi Herls Frankfurter-Rundschau-Kolumne „Kinder im Gottesstaat“ – einige Nachbemerkungen

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Michi Herls Kolumne – FR vom 22.4.2014 -, die tagelang in Leserbriefen Anfeindung erfuhr, hatte sich inhaltlich daran gestoßen, dass nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Grundschulen nicht verpflichtet seien, „das Fach Ethik anzubieten - wohl aber christliche Religion“.- „Ein skandalöses Urteil“, so schrieb er.

 

Als Ableitung daraus folgt, dass dem religiösen Komplex im Gemüt und Unterbewussten mehr Relevanz und Einfluss zugestanden wird als der reflektierenden Vernunft im Verstand, die sich der Beschreibung der rationalen Ethik widmet („Handle so, dass die Maxime Deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, Immanuel Kant). Es ist möglich, dass das Urteil von Verwaltungsrichtern gesprochen wurde, denen eine dezidierte geistige Gestalt wie Kant eine terra incognita ist, ebenso wie Voltaire und Diderot.

 

Die unterirdisch religiöse Grundströmung, die weiterhin ihren Einfluss geltend zu machen weiß, um dem Unterbewussten ihren Stempel aufzudrücken und Macht über die Gemüter und Seelen auszuüben, veranlasste ihn zu der Überschrift „Kinder im Gottesstaat“. Eine ungreifbare Macht der Definition und Prägung versucht sich – kaum bewusst noch - womöglich in viele unserer Überlegungen und Entscheidungen hinein zu stehlen, mit dem angemaßten Anspruch der Überwölbung mit einem Unbedingten, Gott genannt.

 

Der Tenor der Rechtfertigungen des religiösen Komplexes, auch in Beschimpfungen, Schmähungen und Bedrohungen (geschriebene und angerufene) gipfelnd, wollte darauf hinaus: alles ist jetzt anders, Religion ist nunmehr demokratisch tolerant, handzahm, vom doktrinären Anspruch gänzlich frei. Dieser prägte noch die 50er Jahre. Die aber seien Vergangenheit, abgeschlossene.

 

Ja, ist denn nun alles nicht mehr so schlimm um die Religion, ist sie mittlerweile eine Wattebausch-Angelegenheit, obwohl doch augenblicklich im religiös Gewalttätigen sich der Irrsinn abspielt, verfolgt man die Schlächtereien und Ungeheuerlichkeiten im Nahen Osten, die im Namen Gottes begangen werden. Dorthin war einst auch das nordische Christentum gezogen, um im Namen Gottes, Sakrileg daselbst, die eigene Art zu schlachten, wenn sie sich nicht dem wahren Glauben unterwirft.

 

Natur hält uns selbst schon genug der Übel bereit, aber Religion potenziert sie alle, die natürlichen wie die menschlichen. Religion erzeugt mehr krasse Übel als Natur kann. Sie lauert darauf, ihren absoluten Anspruch dereinst durchzusetzen.- „Gott“, was soll das sein? Das ist ein Begriff unserer Sprache, der sich in die Anmaßung verirrt, etwas über das Unbedingte, das Absolute, Ungeschaffene zu wissen und dies noch mit einem qua Natur unsagbar eingeschränkten Verstand und einem schlicht unterdimensionierten Gehirnkasten. Was Gott zugeschrieben wird, ist im Grunde menschlich, aber ab dann wird’s hochgradig gefährlich. Religion als Welterklärung und Praxis in der Welt ist Dilettantismus hoch drei. Würden wir allein wirklich nur einen Zipfel über den Anfang und das Ende der Natur kennen, dann erst würden wir auch etwas über die Eingeschränktheit unseres Wissens, dessen wir uns als Gattung rühmen, überhaupt, und gar „über das Absolute“, einsehen.

 

Die Leserbriefschreiber contra Michi Herl versuchten Religion harmlos zu reden und das verhängnisvoll Religiöse als überwunden runter zu schreiben. Religion ist aber im Ursprung nicht anders als intolerant, weil sie vom Absoluten her auf das Zeitliche und die endlichen Menschen denkt und vom begrenzt Zeitlichen ins vermeintlich Absolute greift – ohne wirklich und tatsächlich etwas Genaueres darüber wissen zu können. Die Aufklärung sagt: Gemäß der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung „als solcher überhaupt“ ist uns die Erkenntnis des Unbedingten verschlossen und zwar auf alle Zeit (nach Kant).

 

Die Zehn Gebote sind ein Produkt der allgemeinen menschlichen Vernunft und Rationalität. Sie sind Ausdruck der rationalen Ethik und mehr wird auch nicht benötigt. Dass sie geoffenbart sind, kann man behaupten, beweisen kann man das nicht. Man braucht es auch nicht, denn Ethik und Moral sind rein rational begründbar. Eines Schöpfergottes braucht es dazu nicht.

 

Die andere Funktion der Religion ist ihre sozialpsychologische Rolle. Sie will den großen Hebel ansetzen und dient damit, gewollt oder ungewollt, der Regression ins Archaische. Dies Moment greifen wir sogleich auf.

 

Der kaum diskutierte Konflikt im Diskurs über Religion müsste vom Unterschied und Gegensatz des Lebens- bzw. Geschichtsdienstes handeln, der mit dem Aufstieg zur Staatsreligion chronisch wurde. Der Dienst am hilfebedürftigen, verletzlichen, ungeschützten menschlichen Wesen ist die eine Seite, der Dienst im Auftrag, in geistlicher Stellvertretung der weltlichen Systeme von Macht und Herrschaft, ist die andere. Über Jahrhunderte hat Kirche und Religion der Unterwerfung unter die modernen Systeme zugearbeitet. Römisches Reich, Katholische Kirche (Ecclesia triumphans), Obrigkeitsstaat und zuletzt: spekulativer Finanzmarktkapitalismus, Geldkasino, abgestiegen in die strukturierten Wertpapiere und „Finanzmarktinnovationen“, die wohl religionspolitisch relevant sind („Masters of the Universe“), aber absolut Müll sind, menschlich, charakterlich, mithin gar ökonomisch. Wir haben es mit einer Triade der Gründung und der Fortschreibungen von Macht und Herrschaft zu tun.

 

Mit der wachsenden, mechanistisch verkürzten Modernisierung, die durch Religion zusätzlich Begünstigung und Assistenz erfuhr, stellten sich in historischen Stadien verformte und zerrüttete Gemeinwesen ein. Nicht, dass gleich alles zerfallen müsste, aber es wird zunehmend prekär, vorangetrieben auch durch jene, die einst den kleinen Mann zu vertreten angetreten waren. Hieraus ergeben sich zwei „Lösungsansätze“: der archaisch-regressive, gewalttätige und der reglementierende, kontrollierende, ausbeuterische. Diese gehen ineinander über. Jeweils einer kann auch überwiegen und zwar krass, wie wir heute verfolgen müssen (Näherinnen in Bangladesh als systemisch Ausgebeutete, „Gotteskrieger“ im Nahen Osten als rasende Gewalttäter, für die Religion nur Aufkleber und Vorwand ist; die keine weltliche Perspektive mehr haben).

 

Nach Freud sinnt die eingeschnürte Natur (als Triebstruktur, Libido) im nicht endenden Unbehagen in der Kultur darauf, den Kulturzustand wieder aufzuheben, aus dem Kulturzustand auszubrechen
(1. Weltkrieg). Die menschliche Natur richtet sich gegen das, was ihr das Leid angetan hat. Und leidet damit auch wieder zugleich gegen sich selbst gerichtet. Waffen werden gesegnet und in jeder Weise gerechtfertigt, der Mensch wird zugerichtet zum Verbrauch seiner Natur, in der Fabrik wie auf dem Schlachtfeld.

 

Noch etwas über die Fünfziger: hier stellen sich Erinnerungen ein, die Groteskes zu bieten haben.

Traditionell hat Religion viel mit Psycho-Masche und Psycho-Druck zu tun. Das dient der Unterwerfung unter die Obrigkeit und der ausschlachtbaren Erzeugung von Angst und Furcht, die beabsichtigt ist. Der Mensch ist fehlbar und mangelhaft. Dies vorausgesetzt ist es jedoch gemein, damit zu operieren und ihr/ihm Gewissensangst und Schuldgefühl einzureden und das zur Lenkung einzusetzen. Denn, wie Nietzsche schrieb: die Religion rede den Menschen ein, notorische Sünder zu sein, um nachher die Last, die damit einhergeht, heben zu können und bereite sich damit ein immer währendes Geschäft.

 

In den katholischen Gegenden galt es nicht selten schon als sündig, den Körper zu betrachten, wenn er gewaschen wird. Reinlichkeit war dadurch restringiert, war eine Bürde. Eine kleine, angebliche Verfehlung begangen (vielleicht nur eingebildet) erforderte die Abbitte, die darin bestand, Wallfahrtsorte wie Lourdes oder Konnersreuth einmal im Leben aufzusuchen.

 

Zu der natürlichen und gesellschaftlich bedingten Last des Lebens trat die künstliche, zwangsvorgestellte hinzu, die von den religiösen Autoritäten begünstigt wurde. Einige von diesen schritten aber schon darüber hinaus und predigten dann flammend gegen so viel der Bigotterie, wenn plötzlich eine Madonna in der Kapelle stand, die gar nicht vom Pfarrer abgesegnet war, nur weil sie der Vergebung der Sünde zu dienen hatte. Das war selbst dem Pfarrer zu viel.

 

Schlechtmachen des Körpers, immer wieder auch Instrument religiöser Unterwerfung und Steuerung, das Anschwärzen der Welt, der sinnlichen Genüsse und des Genusses der Leiblichkeit, das prägte die Fünfzigerjahre und ist noch heute Technik zumindest aufsteigender Religionen, die damit dem Zivilisationsdienst beispringen, wobei das Aufsteigen eher ein verzweifeltes Rückzugsgefecht einer Illusion ist. Denn Religionen selbst tragen zu keinerlei Überwindung der natürlichen und menschlichen Übel und Mängel bei. Und wenn, dann geht das von einzelnen aus.

 

Die zurückgehenden Religionen indes haben Körperfeindlichkeit als offensive Praxis offiziell aufgegeben – bin mir da aber nicht so sicher -; gleichwohl, der Zivilisationsprozess fördert die Abkehr vom Körper auch aus sich selbst – sie ist in ihn übergewechselt, trotz Idolisierung des Körpers. Immer dann, wenn es einen neuen Zivilisationsschub gibt, wie z.B. als Folge der Digitalisierung, werden Sexualität und Leiblichkeit problematischer, nehmen etwas vom Ruch des eher Verfemten, Abseitigen, weil allzu unökonomisch Verspielten an - solange es nicht der Werbung und Propaganda dient. Die Sechziger waren freizügiger als es die heutigen Jahre sind.

 

Da Gott, falls es ihn gäbe, ohnehin abwesend und unerkennbar ist, ist es sinnvoller, wenn wir unsere Freiheitsgrade, bewusst und mit guten, ausgebildeten Verstandes- und Sinnesgründen verantwortlich nutzen. Freiheitsgrad ist ohnehin in der kaum kalkulierbaren, letztlich unerkennbaren Natur angelegt – allein was das Was und Überhaupt ihrer Existenz betrifft. Dies offenbart sich in der Chaostheorie, der Theorie, die sich mit der Nicht-Vorauskalkulierbarkeit bewegter, fließender Systeme wie Wasser, Wolken und Klimata - andere sind ebenso gestellt, z.B. Gesellschaft, Ökonomie, Historie, Planeten und v.a.m. – beschäftigt. Hinzu kommt die fraktale Natur in natürlichen Systemen, also das Brüchige und Inkontingente, als ein ebenso Typisches dieses Entstandenen.

 

Michi Herl hatte etwas angesprochen, was vom freien Geist anzusprechen war, dem Geist, der sich nicht mit wohligen Bindungen im Religiösen und Weltanschaulichen begnügt, die wie gesagt, eher Illusionen sind. Auch so viel geistig allzu Gebundenes und Herabziehendes liegt noch immer als lastende Realität auf so vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.

 

Einen reizvollen Beitrag lieferte der Dalai Lama zum Thema Schöpfergott, der ja für alles sorgt: „Die Sunniten beten zu Allah, die Schiiten beten zu Allah, beide bringen sich gegenseitig um, muss der Allah da nicht langsam verwirrt werden?“ (FR 14.6.2014)

 

Unsere Welt ist ein Erfahrungs- und Entwicklungsraum. Mehr können wir nicht wissen und sagen. Großreligionen waren die Reaktionsbildung auf die ersten großen Wellen der Vergehen der menschlichen Gattung gegen die eigenen Artgenossen und gegen die Alte Natur, unter dem Zeichen der Hochkultur. Insbesondere in der modernen Welt (die Moderne beginnt mit der Achsenzeit) ist sie keine Lösung, sondern wurde selbst Teil des Großproblems.

 

Intellektuell reizvoll war die Gestalt Jesus, aber: weil er Mensch war, nicht des Religiösen wegen. Für heutige und künftige Revolutionärinnen, Revolutionäre und Aufrührer in Zeiten des entfesselten und für den Zusammenhalt unserer Gattung hochgefährlichen Finanzkapitalismus kann er Vorbild sein. Weil er eben auch seine sinnlich-greifbare und handelnde Seite zeigte. Besonders zum Ausdruck kommend unter anderem in Matthäus 21,12: Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein, und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel, und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer.

 

Bei Occupy hätte er bestimmt mitgemacht.