Über die vermutlich erste Demonstration von Rollstuhlfahrern in Hamburg
Helmut Marrat
Hamburg (Weltexpresso) Neulich meinte eine Freundin zu mir, ich müsse eigentlich in Barcelona leben. Denn dort gebe es überhaupt keine Bordsteine. Alles sei eben.Nun hat man das in der Hansestadt wenigstens auch einigermaßen hinbekommen. Man kann mit dem Rollstuhl relativ problemlos in der Innenstadt unterwegs sein. Wenn man sie denn erreicht!
Das ist nicht so selbstverständlich, wie es sich anhört. Denn Hamburg hat zwar stets einen freundlich lächelnden Bürgermeister, momentan wieder einen Sozialdemokraten, und vorher lange einen Christdemokraten, doch eigentlich ist das unerheblich. Denn bestimmte Dinge bleiben gleich. Zum Beispiel eine erstaunliche Ungeschicklichkeit in planerischer Hinsicht! So gibt es etwa immer noch keine Aufzüge an zentralen U- und S-Bahn-Stationen, aber man leistet sich stattdessen ein sogenanntes Prestige-Busbeschleunigungsprogramm, das bisher noch keinen Bus hat pünktlich kommen lassen, bei dem Straßenverläufe verändert werden, und das kostet mehrere Millionen. Der Effekt: Ein paar Buslinien sollen schneller vorankommen. Erhoffter Zeitgewinn: Wenige Minuten.
Ins Literaturhaus kommt man mit Rollstuhl nicht herein. Denn Behinderte lesen unter Umständen nicht. Und die ZEIT-Stiftung hält das vielleicht deswegen für besser, weil das Literaturhaus keine Behindertentoiletten im Angebot hat. Das soll, wie es heißt, der Mäzen Gerd Bucerius für unnötig gehalten haben. - Beim interessantesten Kino der Stadt, nahe der Uni, dem "Abaton", wo häufig Filme laufen, die man sonst nirgendwo zu sehen bekommt, verhindert ebenfalls eine große Treppe den Besuch. Nach eigenen Angaben wäre ein Umbau zu teuer.
Bei den großen Theatern hat man allerdings inzwischen barrierefreie Zugänge geschaffen. Nur neulich mussten sich Rollstuhlfahrer wehren. Ausgerechnet in den berühmten Kammerspielen lief: "Ziemlich beste Freunde" - Wie man weiß, geht es in dem französischen Publikumsrenner um einen Rollstuhlfahrer und dessen Pfleger, einen Schwarzen. Ein Riesenhit, der Film. Daraus ein Stück zu machen, war klug. Weniger klug war, dass das Theater ausschließlich mittels zweier Treppen erreichbar ist. Und so erlebte Hamburg eine Demonstration von Rollstuhlfahrern. Vor dem Gebäude, aus dem sie ausgesperrt bleiben sollten! Es war, wie gesagt wird, die erste Demonstration dieser Art. Und wirkungsvoll dazu. Die Theaterleitung reagierte. Man richtete einen "Schleppdienst" ein. Voraussetzung: Der Behinderte musste einen Helfer mitbringen, der mit anfassen konnte. So teilte man sich die Tragarbeit.
Das war im Mai. Nun spielen sie längst andere Stücke! Und erwarten auch keine Rollstuhlfahrer mehr. Aber dafür gibt es wenigstens auch keine Demonstranten mehr.
Info:
Das Literaturhaus Hamburg wurde 1989 eröffnet. Spender war der Verleger Gerd Bucerius. Das Gebäude stammt aus dem Jahr 1837 und wurde für diesen Zweck aufwendig saniert. - Die Hamburger Kammerspiele sind eine der ältesten Sprechbühnen Hamburgs. Das jetzige Gebäude wurde 1863 als jüdisches Gemeindehaus errichtet. Das Theater 1918 von Erich Ziegel an anderem Ort (am Besenbinderhof, nahe dem Hauptbahnhof) gegründet. Gustaf Gründgens, Erika und Klaus Mann spielten in den Zwanziger Jahren dort.
Nach dem 2. Weltkrieg nannteIda Ehre die Bühne des ehemaligen jüdischen Gemeindehauses wiederum "Hamburger Kammerspiele". Ida Ehre leitete die Hamburger Kammerspiele mehrere Jahrzehnte. Die berühmteste Aufführung dort war die Uraufführung von "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert, November 1947.