Das jüdische Logbuch Anfang August
Yves Kugelmann
Kopenhagen, (Weltexpresso) - Die Menschen fluten die Strassen. Es ist ein sonniger Wochenendmorgen. Die dänische Hauptstadt hat sich neu erfunden und als ökologische Hauptstadt der Zukunft etabliert, präsentiert sich weltoffen, steht für Freiheit und sozialen Frieden. Die hohen Güter Demonstrations- und Redefreiheit zeigen an diesem Morgen, wie sehr die demokratische Rechtsordnung generell und im Kontext der Eskalationen in Nahost herausgefordert ist.
Beim ältesten Brunnen der Stadt am alten Markt Gammeltorv brüllt ein Redner in ein Megaphon. Hinter ihm ein großes Banner mit der Aufschrift «Fuck Islam», daneben ein Foto eines brennenden Korans. Eine Handvoll Menschen hört zu. Fünf Polizisten sind vor Ort. Der Manifestant ruft zur Koran-Verbrennung auf, die er da vornehmen möchte. Einer der jungen Polizisten ist selbst Muslim. Ruhig behält er die Situation im Auge, währenddem sein Kollege eine Verbrennung des Korans verhindert. Wenig später passiert vor dem Geburtshaus des dänischen Physiker Niels Bohr auf dem Frederiksholm-Kanal ein Boot mit sechs unverkennbar muslimischen jungen Männern die Højbro-Brücke. Einer hebt grinsend den Arm zum Hitlergruss und ruft «Heil Hitler, heil Hitler».
Im Spannungsfeld zwischen Islam-Hass und hassendem Islam fordert die Gemengelage den Umgang mit den diversen Nahostkonflikten zunehmend heraus und offenbart einmal mehr, wie tief die Konflikte in die Gesellschaften in Europa oder gerade auf den US-Wahlkampf einwirken. Muslime, Juden, Israel, die Nahostkonflikte sind in der analogen und digitalen Welt ununterbrochen präsent. Das tut etwas mit betroffenen Menschen und jenen, die zuschauen. Seit Monaten triggert, spaltet, radikalisiert der Nahostkonflikt Menschen. Wo all das hinführen wird, ist unabsehbar und die Situationen irgendwann mal nicht mehr kontrollierbar. Doch was mag das heißen, für die offenen Gesellschaften, für die Konfliktparteien, für all jene, die noch irgendwie am Gesellschaftsvertrag partizipieren? Ist Radikalisierung, Rückzug und Entkoppelung eine Lösung, das Anrufen von ethnischen, religiösen, identitären Narrativen?
Wie kann die offene Gesellschaft der Bedrohung martialischer Ideologen begegnen und mittelalterliches Gehabe parieren, ohne in den Reaktionsmustern immer mehr von Agitationen von Feinden oder Despoten zu übernehmen, ohne Aufklärung, Wissenschaft, Medien oder Freiheitsrechte einzuschränken oder zugleich ins Absurde zu führen? Es lohnt sich in diesen Tagen zeitlose Klassiker aus Literatur oder Philosophie, aus Orient oder Okzident zu lesen. Eines ist «Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde» von Karl Popper und die Analyse der Gegenwart, geschrieben während des letzten großen Krieges vor 80 Jahren im Angesicht der beiden großen Kriege in Europa und Nahost, der globalen und digitalen Bedrohungen, vor denen sich heute so viele fürchten. Kritischer Rationalismus, die Untersuchung von politischen Strukturen und Mechanismen im grossen Kontext beleuchtet die Bedrohung der Gegenwart ganz neu und mag Antworten liefern.
Karl Popper kommt zur Schlussfolgerung: «Wir können wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur den einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit.» Popper findet Antworten auf Religionsfanatismus, Despotismus, Herausforderungen von Migrationsbewegungen, offene Grenzen und auf all jene Ideologen, die sich unter dem Vorwand der Demokratie deren Abschaffung und Unterwerfung der Menschen wünschen.
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 9. August 2024
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.