Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - "Liebe Claudia, jetzt will ich Dir doch kurz ein paar Zeilen schreiben und Deine Ungewissheit beenden. Ich war am Freitag und am Samstag im Krankenhaus, nachdem mich am Freitag, während ich am Computer saß, eine transitorische ischämische Attacke zum zweiten Mal innerhalb von einigen Jahren heimgesucht hatte. Das ist die medizinische Bezeichnung für so etwas wie einen kleinen Schlaganfall, der sich diesesmal in einem kurzzeitigen Gedächtnisausfall äußerte.
Ich wusste plötzlich nicht die Telefonnummer meiner Nachbarin im Nebenhaus. Irritiert wollte ich mir die Telefonnummern einiger Freunde ins Gedächtnis rufen und scheiterte damit. Sofort geriet ich in Panik und wusste nicht einmal mehr meine eigene Telefonnummer. Da herrschte bei mir Katastrophenalarm.
Zumindest wusste ich, dass ich sofort meine Tochter Nicole anrufen musste, deren Telefonnummer ich seltsamerweise nicht vergessen hatte. Bald darauf stand ein Notarztwagen vor der Tür und ich landete eine Stunde später in einem Krankenhauses, wo ich an allerhand technische Geräte angeschlossen wurde. Noch bevor es Nacht wurde, hatte ich mein Gedächtnis zurück und konnte am Sonnabend bei der Visite die Ärzte mit einer Vielzahl von Telefonnummern, dem selbst geschriebenen "Herbstgedicht 2021" und dem Wunsch nach Entlassung noch am selben Tag überraschen.
So geschah es dann. Deshalb sitze ich wieder hier am Computer und schreibe Dir ein paar Zeilen, nachdem sich ein morgendlicher schwerer Schwindel allmählich verzogen hat. Nach der zutreffenden Diagnose meiner zum zweitenmal eingetroffenen Tochter und meines Schwiegersohnes war er auf völlig ungenügende Ernährung und ein Wasserdefizit in meinem Körper zurückzuführen. Also zu wenig gegessen und zu wenig getrunken.
Jetzt bin ich wieder allein und werde gleich das inzwischen eingetroffene Mittagessen auf Rädern einehmen. Die Nacht von Samstag auf Sonntag habe ich bis fünf Uhr im Sessel des Wohnsimmers sitzend und schlafend verbracht, was nebenbei noch für eine beträchtliche Unterkühlung gesorgt hat. Ich denke, dass ich bald wieder bei Kräften bin. Dein Kurt"
Dieser Email vom Sonntag, 10. November, folgten noch drei weitere am gleichen Tag, die letzte dann am Nachmittag
"Liebe Claudia, Ich vermisse Deine Antwort auf meine Hiobsbotschaft.", wobei die Hiobsbotschaft darin bestand, daß er glaubte, am Rechner etwas gelöscht zu haben, was gar nicht zutraf.
Wie kann das sein, daß ein 97jähriger so hellwacher Mensch in der Nacht darauf friedlich einschläft. Für immer. Ein schöner Tod. Aber ein Tod. Sein Tod.
Das war und ist ein Schlag, den ich erst einmal nicht verarbeiten kann und auch bis heute brauchte, um dies unseren Lesern und Leserinnen mitzuteilen, die Kurt Nelhiebel seit 2012 als festen Autor von WELTEXPRESSO kennen. Geben Sie seinen Namen in der Suchfunktion auf der Titelseite ein: dann erhalten Sie die letzten 150 Artikel von ihm. Und wenn Sie auf die frühesten Artikel klicken, dann kommen die ersten 150 Beiträge Die vielen hundert dazwischen muß man selber suchen. Ja, er war Hausautor und dies auf vielfache Weise. Natürlich sind die politischen Analysen erst einmal das Wichtigste, aber sein Geheimnis bestand ja darin, mit dem Kopf und seiner Lebensweisheit gesellschaftliche Probleme an- und auszusprechen, dann aber mit Seele und Gemüt die naheste Natur, seinen Garten im Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten und dies niederzuschreiben. Er liebte seine Pflanzen und den Farbwechsel das Jahr über. Das zeigen seine Artikel und die selbst geschossenen Fotos. Und liebte doch noch mehr das Dichten. Ja, er war ein Dichter, der gar nicht anders konnte, als die Worte strömen zu lassen, die sein Gemüt bevölkerten. Die einen Gedichte reine Poesie, die anderen an Wilhelm Busch geschult und fix gereimt. Er hatte den Schalk im Nacken. Das auch. Darauf komme ich zurück.
Wir haben über die Jahre Tausende von Emails hin- und hergeschrieben und er war überzeugt, daß die Veröffentlichung seiner Beiträge ihn am Leben halten. Kurt Nelhiebel war kein abgezehrter Dichter im Kämmerlein, sondern sich seiner Bedeutung wohl bewußt. Am 2. November frühmorgens schrieb er: "Liebe Claudia, von Deinem Lob auf mein herbstliches Foto habe ich lange gezehrt. Nun schicke ich Dir eine Sammlung von Äußerungen über mich, an denen diesmal Du eine Weile zehren kannst. Kurt
Andere über Kurt Nelhiebel (Conrad Taler)
Prof. Dr. Harry Pross im Vorwort zu „Rechts wo die Mitte ist – Der neue Nationalismus in der Bundesrepublik“ (S.Fischer Verlag)
Aus Conrad Talers Darstellung der gleichartigen Argumentation von CDU, CSU und NPD ist eine Kampfschrift geworden, motiviert von der Sorge um den verdrängten Fortschritt und getragen von einem Pathos, auf das am ehesten Helmut Qualtingers Satz passt: Nationalgefühl hat man, wenn man sich für seine Nation schämt. Beschämendes genug wird berichtet. Das Buch zeigt, dass in der Mitte der bundesrepublikanischen Szenerie argumentiert wird, wie die Totengräber der Weimarer Republik argumentiert haben. (1972)
Ivo Frenzel zu „Über die Unvernunft des Wettrüstens“ in „Neue Rundschau“
(Aus Süddeutsche Zeitung 15.7.1978)
Wenn man in alten Jahrgängen von S. Fischers Neuer Rundschau stöbert, findet man in Heften aus der Mitte der zwanziger Jahre hervorragende politische Essays, die über das Klima und die Probleme der Weimarer Republik, aber auch über die damalige außenpolitische Situation mehr an Hintergrund verraten, als manches heutige Geschichtsbuch. Autor dieser Beiträge war fast immer Samuel Saenger, dem man aus der Distanz eines halben Jahrhunderts einen besonderen Scharfsinn bescheinigen muss. Große Begabungen in der politischen Publizistik sind selten geworden. Doch gibt es Glücksfälle wie diesen: Conrad Talers Beitrag „Über die Unvernunft des Wettrüstens“ in Heft 2 / 78 der Neuen Rundschau steht für die Kontinuität der politischen Tradition dieser ruhmreichen literarischen Zeitschrift.
Dr. Ralph Giordano zu „Die Verharmloser – Über den Umgang mit dem Rechtsradikalismus (Donat Verlag Bremen)
Großartig und packend. Das Beste über das Thema, was ich seit langem gelesen habe. (1996).
Dr. Heinrich Hannover zu dem Buch „Zweierlei Maß – Oder: Juristen sind zu allem fähig“ (PapyRossa Verlag Köln)
Conrad Talers Buch ist eine Provokation, es steht quer zur Strömung des Zeitgeistes, der über Recht und Unrecht und über die Staaten, wo das eine und wo das andere zu suchen ist, Bescheid zu wissen glaubt. Es gibt einen sehr großen Nachholbedarf an Aufklärung über die Rechtsungleichheit in der politischen Justiz und deren Gründen. Wer dieses Buch mit der Bereitschaft liest, Justizunrecht auch dort zur Kenntnis zu nehmen, wo die herrschende Medienöffentlichkeit den beruhigenden Glauben zu erzeugen wusste, dass bei uns „alles rechtsstaatlich“ zugegangen sei, dem werden einige Zweifel kommen, ob Anspruch und Wirklichkeit unseres Rechtsstaates tatsächlich übereinstimmen. (2002)
Manfred Mayer-Schwinkendorf, Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen Gesellschaft Bremen/Bremerhaven zu „Das Vorspiel – Die Sudetenkrise und der zweite Weltkrieg“ – (Donat Verlag Bremen)
Conrad Taler ist es mit der vorliegenden Schrift gelungen, an den Sinngehalt einer noch nicht völlig bewirkten Aussöhnung (zwischen Deutschen und Tschechen) anzuknüpfen und die Ebene des persönlichen Erlebens mit der historischen Betrachtung zu verbinden und damit den Grund für eine vernünftige, zukunftsweisende Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu legen. (1998)
Dr.Marcel Atze zu „Asche auf vereisten Wegen – Berichte vom Auschwitzprozess“ (PapyRossa Verlag Köln)
Die Berichte von Conrad Taler über den Auschwitz-Prozess sind außerordentlich lesenswert, weil der Autor eine brillante Beobachtungsgabe besitzt und weil ihn eine ungeheure Auditivität auszeichnet. Talers Buch ist jedem zu empfehlen, der sich rasch über den Verlauf des Auschwitzprozesses, über dessen Höhepunkte und die im Gerichtssaal ausgetragenen Konflikte ein Bild machen möchte. Jeder wird zudem durch Conrad Talers außerordentliches sprachliches Darstellungsvermögen belohnt. (Newsletter Nr.25, 2003 des Fritz Bauer Instituts)
Renate Hennecke zu Conrad Talers Buch „Verstaubte Kulisse Heimat“ (PapyRossa Verlag Köln 2007)
Unter dem provokanten Titel „Verstaubte Kulisse Heimat“ erschien im PapyRossa Verlag das neue Buch von Conrad Taler, dessen Untertitel lautet: „Über die Kausalität von Krieg und Vertreibung“. Charakteristisch für die Haltung des Verfassers ist, dass er seinen Schmerz über die Ausweisung aus seiner böhmischen Heimat nie verhehlt, sie sogar „ein zum Himmel schreiendes Verbrechen“ nennt, gleichzeitig aber nüchtern über die Ursachen nachdenkt und Anmaßungen zurückweist. (Deutsch-Tschechische Nachrichten, München. Nov. 2007)
Annett Mängel, Blätter für deutsche und internationale Politik
„Ihr Lebenswerk ist unglaublich beeindruckend und Sie können sich ganz bestimmt zugute halten, einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit geleistet zu haben. Noch immer ist mir ihr wunderbares Stück „Holubs Welt“ in sehr guter Erinnerung. Großen Dank aus Berlin.“ (27. August 2009)
Dr. Eva Hahn und Prof. Dr. Hans Henning Hahn:
Nelhiebels Texte weisen alle Züge des geistigen Erbes der deutschen Antifaschisten im Sinne von Erika und Klaus Mann auf, das heißt all jener, die sich einig sind in ihrer unbedingten, leidenschaftlichen Ablehnung des Naziungeistes. (Aus „Die Vertreibung im deutschen Erinnern“, 2010)
Prof. Dr.Tomasz Szarota (Warschau) an Kurt Nelhiebel am 18. November 2010.
„ Ich lese gerade das Buch „Die Vertreibung im deutschen Erinnern - Legenden, Mythos, Geschichte“ der Historiker Eva und Hans Henning Hahn. Dort wird Ihnen und Ihren Werken ein Kapitel (S. 633-655) gewidmet. Nach der Lektüre dieses Textes weiß ich, was für ein kluger, mutiger und edler Mensch Sie sind. Ich bin sehr stolz auf unsere, leider nur briefliche Bekanntschaft.“
Prof. Dr. Hans Henning Hahn in der Laudatio zur Verleihung des Kultur- und Friedenspreises der Villa Ichon in Bremen an Kurt Nelhiebel am 15. 3. 2014.
Kurt Nelhiebels Umgang mit historischen Quellen hat mir immer großen professionellen Respekt eingeflößt. Die Sorgfalt, mit der er seine Recherchen durchführt, und vor allem die Umsicht, mit der er sie interpretiert, machen deutlich, dass Engagement und Meinungsfreudigkeit keineswegs Feinde von Wissenschaftlichkeit sind.
Aus der Urkunde über die Verleihung des Kultur- und Friedenspreises 2014.
Der aus Böhmen stammende Journalist, Schriftsteller und Dichter Kurt Nelhiebel, der seine Texte zum Teil unter dem Namen Conrad Taler veröffentlichte, hat sich eingehend mit den Ursachen von Krieg und Vertreibung auseinandergesetzt. Seine Werke sind Dokumente des deutschen Antifaschismus. Bestimmt werden sie von der Ablehnung des Nazi-Ungeistes und – in Wahrung der Weltoffenheit – vom Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Bundespräsidialamt in Berlin an Kurt Nelhiebel am 20. Juni 2014
„Ihr langjähriges publizistisches Engagement als einer der letzten Zeitzeugen des seinerzeitigen Wirkens Fritz Bauers beeindruckt, ebenso Ihr sehr lohnendes Ziel, jungen Menschen zu helfen, ihre Lehren aus der leidvollen deutschen Geschichte zu ziehen. Ich wünsche Ihnen Gesundheit und weitere Schaffenskraft.“ (Dr. Christoph Scholten).
Katrin Kusche, verantwortliche Redakteurin der Zweiwochenschrift „Ossietzky“ am 26. Februar 2018
„Mein präzisester und zuverlässigster Schreiber.“
Klaus Philipp Mertens in einer Rezension des Buches von Klaus-Jürgen Schmidt, „Wie ich lernte, die Welt im Radio zu erklären“ (Weltexpresso 3. März 2021)
Beim ersten Überlesen des mit ca. 360 Seiten sehr umfangreichen Buchs fielen mir die Namen von Persönlichkeiten auf, die ich zu den Lichtgestalten des deutschen Rundfunk-Journalismus zähle und die Radio Bremen eine Zeitlang ihren Stempel aufdrückten. So Gert von Paczensky oder Kurt Nelhiebel. Sie haben die persönliche Pressefreiheit seriöser Journalisten ernst genommen und ihnen die notwendigen Freiräume verschafft. Und wenn es zum Schwur kam, haben sie sich hinter ihre Leute gestellt.
Lars Breuer über „Im Wirrwarr der Meinungen – Zwei deutsche Antifaschisten und ihre Stimmen
«Das Bemerkenswerte an den Texten ist, wie Nelhiebel eindrückliche Schilderungen seiner eigenen Erfahrungen von Kriegsende, Aussiedlung und Heimatverlust mit einer scharfen Analyse und Kritik an der späteren Erinnerung an Heimat, Flucht und Vertreibung verbindet. Gerade seine Abgrenzung von der oftmals nationalistischen und revanchistischen Praxis der westdeutschen Vertriebenenverbände macht Nelhiebel zu einer seltenen Stimme in der deutschen Erinnerungslandschaft, für die man sich beizeiten etwas mehr Gehör wünschen könnte.» (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62.11, 2014).
PH Dr. Irmtrud Wojak: „Wunderbar viel bewirkt“
„Vielen Dank für Ihr Gedicht. Wollen wir mal wieder telefonieren? Sie haben so wunderbar viel bewirkt! Ihre Irmtrud Wojak,.“ Geschäftsführerin des Fritz Bauer Forums und der Buxus Stiftung. (Am 4. Juli 2023 in einer Mail an mich.)
Erich Kästner
über die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes
„Sie opferten Leben und Ehre. Hat man ihnen wenigstens die Ehre wiedergegeben? Nicht ihre Offiziersehre, nicht ihre Pastorenehre, nicht ihre Gewerkschaftsehre, nein, ihre mit Gewissensqualen und dem Tod besiegelte, mit Folter und Schande besudelte, am Fleischerhaken aufgehängte menschliche Ehre und wahre Würde? Hat man versucht, diese Männer und Frauen in unserer vorbildarmen Zeit zu dem zu machen, was sie sind? Zu Vorbildern? Man tue es, bevor der Hahn zum dritten Male kräht!“
(Aus „Von der deutschen Vergesslichkeit“, 13. Mai 1954, in „Das Erich Kästner Lesebuch“ Diogenes Taschenbuch Zürich 1978, S. 248)
Die Eingeweihten wissen und Kurt Nelhiebel machte schon lange kein Hehl mehr daraus, daß Conrad Taler ursprünglich sein Pseudonym war, denn als politischer Redakteur bei Radio Bremen stand er bei Unwohlgesinnten unter Kuratel.
Ich hatte Kurt vorgeschlagen, daß wir zu seinem nächsten Geburtstag statt eines eigenen Geburtstagsartikels die obigen Lobsprüche veröffentlichen, woraufhin er mir am 5. November schrieb: "Heute führt die Morgenstunde wirklich einmal Gold im Munde. So viele schöne Worte von Dir habe ich um diese Uhrzeit ja noch nie vorgefunden. Wenn Du mit der Veröffentlichung der Lobgesänge über mich warten willst bis zu meinem nächsten Geburtstag, gehst Du ein nicht unerhebliches Risiko ein; denn ich bin nun mal schon 97 Jahre alt."
Und schon wieder hat Kurt Nelhiebel Recht gehabt. Leider.
Sein Gedicht trage ich in mir
Gleichnis
Du bist wie ein schöner Gedanke,
der mich wie Zauber umhüllt,
und wie eine bange Gewissheit,
die sich vielleicht nicht erfüllt.
So wie ein verlockender Anfang,
der jedes Ende verwehrt,
ein flüchtiger Traum voller Hoffnung,
der kurzes Glück nur beschert.
Foto:
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