Bildschirmfoto 2024 11 19 um 00.08.12Zum Tod von Kurt Nelhiebel

Irmtrud Wojak

Bochum (Weltexpresso) - Seine letzte E-Mail mit Texten für seine Webseite  kam am 30. Oktober im Bochumer Fritz Bauer Forum an. Mit dem Hinweis: „Mit 97 Jahren kann es morgen schon zu spät sein“. Am 11. November 2024 ist Kurt Nelhiebel in Bremen verstorben. Mit ihm ist einer der letzten Zeitzeugen gegangen, die Fritz Bauers Anliegen nicht nur kannten, sondern diese auch ohne zu zögern geteilt und stets verteidigt haben.


Kurt Nelhiebel wurde 1927 in Böhmen geboren, nach dem Zweiten Weltkrieg und seiner Vertreibung aus der „alten Heimat Nordböhmen“ wurde er Journalist und Autor bei Radio Bremen. Er ist der Verfasser eines umfangreichen journalistischen und publizistischen Werkes. Hineingeboren in die Zeit der großen Weltwirtschaftskrise, erlebte er als Sohn eines deutschen Antifaschisten das Erstarken der sudetendeutschen Nazis, die Besetzung seiner Heimat durch Hitlers Wehrmacht und anschließend den Terror des nationalsozialistischen Regimes. Als Soldat lernte er während der Kämpfe in Berlin die Schrecken des Krieges kennen und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Ihm gelang kurz vor Kriegsende die Flucht und er machte sich auf den Weg zurück in seine Heimat. Dort entging er um Haaresbreite der Erschießung durch tschechische Sicherheitskräfte. Ein Brief seines Vaters, der ihn als Sohn eines Hitlergegners ausweist, rettete ihm das Leben. In dem Buch „I als Sohn eines Hitlergegners ausweist, rettete ihm das Leben. In dem Buch „Im Wirrwarr der Meinungen. Zwei deutsche Antifaschisten und ihre Stimmen“, ist dieser Brief und Hergang dokumentiert (Peter Lang Verlag, 2013).

Als 19jähriger erlebte Kurt Nelhiebel die unvermeidliche Übersiedlung nach Westdeutschland gemeinsam mit seinem Vater Eugen Nelhiebel, der mit einem Transport deutscher Antifaschisten die Heimat verlässt. Im Westen traf der junge Antifaschist die alten Nazis als Wortführer der Vertriebenen wieder und setzte sich als Journalist mit ihnen auseinander. Seine Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel sah er bei den Kommunisten am besten aufgehoben und erlebte nach dem Verbot der Partei aufs Neue Ausgrenzung und Verfolgung.

Kurt Nelhiebel war keiner, der mit dem Strom schwimmt, wenn die Grund- und Menschenrechte in Gefahr sind. Um seinen Arbeitgeber nicht in Schwierigkeiten zu bringen, wählte er für seine publizistische Tätigkeit das Pseudonym Conrad Taler und beleuchtete das von der NS-Propaganda und völkischem Denken auch weiterhin durchtränkte politische Geschehen der frühen Bundesrepublik. Wenn Unrecht geschah und Gefahr im Verzug war, bleib er anders als Viele nicht stumm. Von Beginn seiner schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit an kritisierte „Conrad Taler“ Antisemitismus und als dessen immerwährende Kehrseite Nationalismus als das, was sie sind: ein Fortleben rassistischen und völkischen Denkens, das eine traurig lange Tradition in Deutschland hat. Der kalte Krieg war für ihn keine Entschuldigung für das Scheitern der Entnazifizierung, die er als Angelegenheit aller Deutschen ansah. Ebenso wie der Revanchismus nicht weniger seiner Landsleute ihn empörte, deren Geschichtsvergessenheit er kritisierte.

Das eigene Erleben reflektierend, schilderte Kurt Nelhiebel in seinen Büchern und Artikeln das Zusammenspiel der sudentendeutschen Volkstumspolitiker mit Hitler bei der Zerstörung der Tschechoslowakischen Republik und als Konsequenz die Ausweisung von drei Millionen Deutschen nach Kriegsende. Sein Fazit: „Hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, wäre es niemals zur Vertreibung gekommen.“

Anlässlich des 90. Geburtstags von Kurt Nelhiebel im Jahr 2017 erschienen gleich zwei Bücher, die neben Unveröffentlichtem einige seiner wichtigen Aufsätze zur deutschen Nachkriegsgeschichte vereinen, die er zum Teil unter seinem Peseudonym „Conrad Taler“ veröffentlicht hatte: Gegen den Wind im Kölner PapyRossa Verlag und Schwejk trifft Candide im Ossietzky Verlag.

Ausgehend von seinen Kindheitserinnerungen an das friedliche Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in seiner böhmischen Heimat und an die nachfolgende Zeit der Verfolgung während des NS-Regimes, wandte sich Kurt Nelhiebel darin gegen den Missbrauch der Heimatliebe durch die mit alten Nazis durchsetzten Vertriebenenverbände. Seine Kritik an der deutschen Wiederbewaffnung führte ihn an die Seite der deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten und deren Kampf gegen das Wiederaufleben der Nazi-Ideologie in Gestalt des Antikommunismus als neue Staatsdoktrin nach 1945.

Die Begegnung mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer und seine Eindrücke als Beobachter des Auschwitz-Prozesses bestärkten Kurt Nelhiebel in seinem Kampf gegen das Einebnen der deutschen Geschichte. Leiten ließ er sich von Einsteins Forderung nach einer neuen Qualität des Denkens und der Mahnung Fritz Bauers: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“

Die Prozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und die Weigerung der deutschen Justiz, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, standen für Kurt Nelhiebel immer weit oben auf der Agenda. Als Prozessbeobachter berichtete er vom ersten Auschwitz-Prozess, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main auf Initiative Generalstaatsanwalt Fritz Bauers stattfand. 2003 erschien die Sammlung der ergreifenden Berichte von Kurt Nelhiebel erstmals im Kölner PapyRossa Verlag, 2015 wurden sie erneut aufgelegt, erweitert um einige Texte über den hessischen Generalstaatsanwalt Bauer.

Welcher Mut der Opfer und Überlebenden dazu gehörte, den ehemaligen Peinigern gegenüberzutreten, machte der Journalist deutlich, indem er die unerträgliche Verhöhnung durch die Täter und manche ihrer Verteidiger während des Auschwitz-Prozesses schilderte. Der Kampf für ein anderes, ein antifaschistisches, antinationalsozialistisches Gedächtnis, zieht sich wie ein roter Faden durch Kurt Nelhiebels Bücher und Artikel. Sie erschienen zahlreich in den Zeitschriften Die Tat, Ossietzky, der Neuen Rundschau, den Frankfurter Heften und in den Blättern für deutsche und internationale Politik.

Die BUXUS STIFTUNG hat zum 90. Geburtstag Kurt Nelhiebels eine Webseite mit zahlreichen ausgewählten Artikeln, Essays und Aufzeichnungen publiziert und immer weiter aktualisiert: www.kurt-nelhiebel.de. Das Team des Fritz Bauer Forums wird diese Webseiten künftig weiter pflegen. Wir hoffen, dass dadurch die Schriften Kurt Nelhiebels vor allem immer mehr Schülerinnen und Schülern zugänglich werden, die sich für Geschichte interessieren und für die Gegenwart stark machen. Schließlich ist es erstaunlich, wie aktuell viele der Beiträge und Einwände Nelhiebels aus den frühen Jahren der Bundesrepublik heute noch sind. Kurt Nelhiebel hat Zeit seines Lebens als kritischer Journalist und Autor vor dem gewarnt, was wir jetzt wieder erleben. Im Vorwort zu seinem Buch „Rechts wo die Mitte ist – Der neue Nationalismus in der Bundesrepublik“ (S. Fischer Verlag) schrieb Harry Pross 1972:

„Aus Conrad Talers Darstellung der gleichartigen Argumentation von CDU, CSU und NPD ist eine Kampfschrift geworden, motiviert von der Sorge um den verdrängten Fortschritt und getragen von einem Pathos, auf das am ehesten Helmut Qualtingers Satz passt: Nationalgefühl hat man, wenn man sich für seine Nation schämt. Beschämendes genug wird berichtet. Das Buch zeigt, dass in der Mitte der bundesrepublikanischen Szenerie argumentiert wird, wie die Totengräber der Weimarer Republik argumentiert haben.“

Zum 50. Todestag von Fritz Bauer 2018 publizierte Kurt Nelhiebel im Ossietzky-Verlag eine bemerkenswerte Sammlung von Texten „Einem Nestbeschmutzer zum Gedenken“. Was genaues Hinsehen und kritischen Journalismus ausmachen und bewirken können, fasste der Verlag aus diesem Anlass so zusammen:

„Als Sohn deutscher Eltern 1927 in Nordböhmen geboren veröffentlichte Kurt Nelhiebel 1959 in der Frankfurter antifaschistischen Wochenzeitung »Die Tat« einen Artikel über die Nazivergangenheit des Bundesvertriebenenministers Theodor Oberländer (CDU) und löste damit eine Lawine aus, die den Minister zum Rücktritt zwang. 1964 erinnerte er im »Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz« daran, dass der soeben mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrte stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Ruhrchemie AG, Heinrich Bütefisch, 1948 wegen Beteiligung an Verbrechen in Auschwitz zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Bütefisch musste den Orden noch am selben Tag zurückgeben. 2010 kritisierte Kurt Nelhiebel in der »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« die geschichtsrevisionistische Ausrichtung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung durch den Gründungsdirektor Manfred Kittel. Vier Jahre danach wurde Kittel mit sofortiger Wirkung von seinem Posten entbunden. 2014 prangerte er in der Berliner Zeitung »Tagesspiegel« den Umgang des Fritz Bauer Instituts mit seinem Namensgeber an; vier Monate später nahm der verantwortliche Direktor Raphael Gross seinen Hut. 2014 erhielt Kurt Nelhiebel den Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon in Bremen. 2018 wurde ihm in Würdigung seiner Verdienste um die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte Deutschlands sowie um Versöhnung und Völkerverständigung das Bundesverdienstkreuz verliehen” (zur Webseite des Ossietzky-Verlags).

Jetzt fehlt Kurt Nelhiebels Stimme. Wir werden ihn nicht vergessen.
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Außerdem veröffentlichte  Irmtrud Wojak mit dem Team des Fritz Bauer Forums am gestrigen Tag eine Mitteilung, die den wichtigen Hinweis auf den Zusammenhang von Fritz-Bauer-Forum in Bochum und Kurt Nelhiebel in Bremen gibt. 

 

Gegen den Wind


Traurig und voller Respekt nehmen wir Abschied von Kurt Nelhiebel
 


Wir sind traurig.
Unsere Gedanken sind bei der Familie von Kurt Nelhiebel.


Am 11. November 2024 ist unser Freund, Mitstreiter und beständiger Unterstützer Kurt Nelhiebel in Bremen verstorben.

Er hat den Aufbau des Fritz Bauer Forums von Anfang an voller Freude und Tatendrang begleitet. Seine außergewöhnliche Pressesammlung überantwortete er unserem Archiv und wir durften ihm eine Webseite mit seinen archivierten und akuelllen Artikeln, Beiträgen, Auszügen aus Büchern und Karikaturen einrichten, die wir auch künftig pflegen werden.


Kurt Nelhiebel wird fehlen.
Er hat als einer der Wenigen ausgesprochen, was unser Pensum ist und bleiben wird:

Die Quintessenz meiner Arbeit bestand in dem Wunsch, die Verantwortlichen für das, was während des Zweiten Weltkriegs und hinterher geschah, ein für alle Mal in der Versenkung verschwinden zu sehen. Nicht nur weil die Gerechtigkeit das verlangte, sondern auch weil ich das als Vorsorge für die Zukunft für notwendig hielt. Deshalb mein Kampf gegen das Vergessen, deshalb die Erinnerung an Auschwitz und an die Ursachen der Vertreibung.

Dass sich die Bundesrepublik Deutschland nicht unwiderruflich von den Schuldigen getrennt, sondern sie in Gnaden aufgenommen hat und ihnen, ausgerechnet ihnen, den Aufbau eines demokratischen Staates anvertraute und ihn damit, sicher ungewollt, mit dem Nazi-Ungeist infizierte, während seine Gegner von der Mitwirkung am Neuaufbau ausgeschlossen wurden, dass also eine Selbstreinigung niemals stattgefunden hat, das ist die Last, die ich mit mir herumschleppe.

Das kurze Gedächtnis der Menschen ist das Mistbeet, auf dem neues Unheil gedeihen kann.

Kurt Nelhiebel, 2016
 

Wir werden Kurt Nelhiebel nicht vergessen und ihm ein ehrendes Andenken bewahren
Möge er seinen Frieden jetzt finden.



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