ArthiveDas jüdische Logbuch Anfang Februar

Yves Kugelmann

Wien (Weltexpresso) - Als ob der Harlekin dem Publikum zurufen wollte: «Hört doch hin! Schaut doch hin! Seht, was ihr nicht sehen wollt. Es ist keine Imagination.» – Die «Synagoge von Safed» hat Marc Chagall 1931 während seiner Reise nach Palästina gemalt. Sie unterscheidet sich in Farben und Stil vom immensen Werk des Künstlers. In der Albertina stellt die große Werkschau «Chagall» dessen Auseinandersetzung mit Herkunft und Judentum nochmals ins Zentrum – und ebenso die Verkitschung seiner Kunst durch die Betrachter.



«Nennt mich einen Phantasten. Ich bin ein Realist» wird Chagall am Anfang der Ausstellung zitiert – gleichsam als Aufforderung: Schaut doch hin, was hier gemalt ist. Etwa die Rabbis am Kreuz und Chagalls Deutung der Jesus-Geschichte, die auch eine innerjüdische Reform hätte bleiben können. Wie hätte sich die Geschichte Europas dann entwickelt? Es ist die grosse Kunst oder Literatur, die der Realität viele Schritte voraus ist. Im Burgtheater resümiert Molières Hauptfigur Alceste im «Menschenfeind» an diesem Abend fatalistisch: «Ich hasse alle Menschen gleichermassen; einige, weil sie schlecht sind, die anderen, weil sie das Böse dulden.»

Das Stück lehnt sich gegen Heuchelei, Opportunismus und falsche Höflichkeit in der Gesellschaft auf und stellt die Frage: Macht sein kompromissloser moralischer Anspruch Alceste zum Aussenseiter? Doch hat er Unrecht? Als ob Jean-Paul Sartres «Geschlossene Gesellschaft» als Fortsetzung angesetzt wäre, sagt am Abend darauf eine der Hauptfiguren, der Widerstandskämpfer und Journalist Garcin: «Man muss mit seinem ganzen Leben bezahlen, wenn man einmal die Wahrheit erkannt hat. Man erkennt die Wahrheit zu spät – das ist der Fehler.» Es ist die existentielle Auseinandersetzung um die Verantwortung des Individuums für sein eigenes Handeln und die Konsequenzen, die daraus entstehen.

Im Stück wird dies zur unausweichlichen Konfrontation mit sich selbst und den eigenen Entscheidungen – und natürlich zur Frage, wie alle diese kleinen Wellenschläge auf das grosse Ganze wirken. Und was, wenn der Tod sich verweigert? Viktor Ullmann hat sich diese Frage im Lager in Theresienstadt gestellt. Omer Meir Wellber präsentiert in der Volksoper Wien «Der Kaiser von Atlantis» im musikalischen Dialog mit Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem in d-Moll, KV 626. «Ist’s wahr, dass es Wiesen gibt, die voll von Buntheit sind?» fragt der Harlekin inmitten der strauchelnden Häftlinge in der Schoah-Szenerie und klagt den Imperator, das Unrecht, Gott an. Als ob Bob Dylan diese Passage in «Blowin’ in the Wind» aufgegriffen hätte, wirkt sie ins Publikum zurück – in einer brillanten Inszenierung, die die Allegorie auf Totalitarismus und die Würde des menschlichen Lebens eindringlich aufzeigt.

Die Hybris der Machthaber spiegelt Ullmann, der ein Jahr später in Auschwitz ermordet werden wird, im Kaiser, der den Tod für seine Zwecke missbrauchen will – und erfährt, dass das Leben ohne den natürlichen Kreislauf von Sterben und Werden sinnlos wird. Eine Kritik an Diktaturen, die Gewalt und Krieg instrumentalisieren – und heute gleichermassen als Mahnung gegen Menschenverachtung und neue Tyrannei. Der Tod dient nicht als Werkzeug politischer Willkür, sondern bleibt eine universelle, unausweichliche Macht, die selbst den Tyrannen zur Rechenschaft zieht. Und letztlich kann nur so die Barbarei durchbrochen werden. Was all das bedeuten kann, beschreibt Walter Benjamin in seinem Essay «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», das im Schaufenster einer kleinen Buchhandlung in der Wiener Innenstadt liegt. Das unausweichliche Jahrhundert-Essay ist auch deshalb eines, weil es in jeder Dekade seit seinem Erscheinen die Realität neu vorweggenommen und eingeordnet hat. «

Der Faschismus sieht sein Heil darin, die Massen nicht zu ihrem Recht, sondern dazu kommen zu lassen, sich auszudrücken (…). Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Verhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck zu geben, indem er sie in ihrer Ablenkung erhält und ihnen ein neues Kunstvergnügen gewährt.» Benjamin kritisiert den Faschismus dafür, dass er eine politische Ästhetisierung betreibt: Massenbewegungen, Symbole und Inszenierungen nutzt, um Herrschaft durch visuelle und emotionale Mittel zu stabilisieren. Kunst und Technik – insbesondere Film, Fotografie und Radio – werden instrumentalisiert, um den Faschismus zu glorifizieren.

Der Historiker Saul Friedländer macht in «Tod und Kitsch» nochmals klar, wie das eine zum anderen führt und Holocaust-Darstellungen meist der Trivialisierung statt der Vertiefung – oder mit Benjamin gesprochen: der Aura, dem Wesen an sich – dienen. In Wochen wie diesen kontextualisiert sich all dies nochmals neu. Das «Volk» verwandelt der Imperator – auch der demokratische – in eine passive, manipulierbare Masse. Es ist der Beginn der grossen Verführung zum Völkischen. Diesmal mit Technik. In welcher Stadt Europas könnte solches besser verstanden werden als in Wien? An jeder Ecke winkt auch die jüdische Kultur mit dem Vorher. Saul Friedländer macht klar: «Kitsch entsteht, wenn das Unfassbare in Formen gegossen wird, die es verständlich, ja beinahe vertraut machen – und es dabei seiner radikalen Fremdheit berauben.» Der «Kaiser von Atlantis» hat Benjamins «Aura» wider den Kitsch zur höheren Erkenntnis gebracht. Das unterscheidet Kunst von Verführung. Und der Harlekin: Wird er Auschwitz überleben?

Foto:
«Synagoge von Safed» von Marc Chagall
©Arthive

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 7. Februar 2025  
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.