Deutsche Nahost-Experten über den Gaza-Krieg, Teil 2/2

·

Matthias Küntzel



Hamburg Weltexpresso) -Der „Offene Brief von deutschen Nahost-Experten“ ergreift für die Hamas gleich dreifach Partei. Erstens findet sich im Text kein Wort zur Kriegsführung der Hamas. Dass sie den Krieg mit Israel provozierte, dass sie nach der ersten Kriegswoche den ägyptischen Friedensplan, den Israel akzeptiert hatte, zurückwies, dass sie massenweise Zivilisten als Schutzschilde missbrauchte – all dies kommt nicht vor.



Der Brief blendet Kontexte und Zusammenhänge aus und ruft stattdessen Bilder der Zerstörung und des Leids in Erinnerung – Bilder, die keine Hintergründe liefern, sondern Assoziationen wachrufen sollen. Von „Bombardierung“, „Besatzung“ und „Siedlungspolitik“ ist die Rede, während man Worte wie „Tunnel“, „Kassam-Raketen“ oder „Entmilitarisierung“ vergeblich sucht.



Zweitens verniedlichen die Unterzeichner den Terror der Hamas. Dies geschieht zum einen mittels der kühnen Behauptung, dass sich die „bewaffneten Gruppen … von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nähren“. Man greift mit dieser Entschuldigungsformel erneut in die Mottenkiste des Antiimperialismus, um sich mit der totalitären Utopie und der Siegeszuversicht der Islamisten nicht befassen zu müssen. Dieses Ausmaß an Ignoranz ist in einer Zeit, in der der „Islamische Staat“ und „Boko Haram“ Schlagzeilen machen, bemerkenswert.



Zum anderen ist immer nur von „militanten palästinensischen Gruppen“ oder „bewaffneten Gruppen“ die Rede, nie aber von Gewalttätern der Hamas. „Die Hamas bleibt, ungeachtet der Aktivitäten ihres militärischen Flügels, eine populäre politische Partei“, schreiben stattdessen unsere Nahost-Ratgeber. „Der Dialog mit den politischen Vertretern der Hamas sollte deshalb nicht länger verweigert werden, die Bilanz der Isolationspolitik seit dem Wahlsieg 2006 ist ernüchternd.“



Wenn auch von einem kritischen Dialog die Rede ist und davon, dass der Verzicht auf Angriffe und terroristische Mittel Voraussetzung dieses Dialogs sein müsse,[12] ist doch der positive Bezug zu dieser Gruppe, die die EU auf ihre Terrorliste setzte, nicht zu übersehen.



Drittens aber tauchen der Name „Mahmoud Abbas“ oder die Bezeichnungen „PLO“ und „Fatah“ in dem „Offenen Brief“ nicht auf. Helga Baumgartens Widerwille gegen den etwas moderateren Kurs des PLO-Führers Mahmoud Abbas ist bekannt.

Die Politik von Abbas, erklärte sie 2003 in einem Interview, stehe „für eine Option, die versucht, sämtliches Widerstandspotential auf der palästinensischen Seite mit Gewalt niederzuschlagen und zwar mit Unterstützung der Amerikaner und des CIA.“ Mahmud Abbas, bekräftigte Frau Baumgarten, gelte „in den Augen der palästinensischen Bevölkerung als ein Vertreter derjenigen, die mit den Israelis kollaborieren.“[13]



Die Professorin hält mit dieser Einschätzung einem Dogma der Achtundsechziger die Treue, demzufolge nur der jeweils radikalste Kämpfer gegen Israel zu unterstützen sei. Diese Haltung steht in einer langen Tradition, die in den Dreißigerjahren mit dem Mufti von Jerusalem – einem Nazifreund und Antisemiten – begann. Es ist eine Tradition, bei der die palästinensischen Araber stets nur als Spielmasse für ideologische Konzepte missbraucht wurden, eine Tradition, die ihnen bis heute nichts als Niederlagen, Tod und Zerstörung beschert hat.



Selten aber war das Paradigma des anti-israelischen Kriegs so isoliert wie jetzt: Der Gaza-Krieg von 2014 hat in der arabischen Welt den Hass auf die Praktiken der Hamas ebenso rasant ansteigen lassen, wie die Hoffnung, der moderatere Abbas möge die Führung in Gaza übernehmen. Ich zitiere im Folgenden eine kleine Auswahl Hamas-kritischer Stimmen aus arabischen Ländern, Stimmen, von denen man in den Medien wenig und von „deutschen Nahost-Experten“ gar nichts hört.



Wir müssen uns von der Hamas befreien!



Am 7. August 2014 schrieb die palästinensische Kolumnistin Dalia Al-`Afifi:

Wir können nicht ignorieren, dass Ägypten jede Anstrengung unternahm, um die Aggression vollständig zu beenden – doch die Hamas irrte sich und wies trotzig und von Anfang an die ägyptische Initiative zurück. … Die Hamas hätte dem Feind Ärger bereiten können, ohne solch eine humanitäre Katastrophe über die Menschen in Gaza zu bringen, wenn sie nur von Anfang an die entscheidende Bedeutung der ägyptischen Initiative verstanden hatte und für eine Verbesserung der Waffenstillstandsbedingungen verhandelt hätte. … Stattdessen betrachtete sie die Gazaner und deren Sorgen lediglich als Nullen. … Eine solch gewaltige Zerstörung auf einem winzigen Stück Boden wie Gaza … kann nicht als Sieg betrachtet werden.“[14]

Am 12. Juli schrieb die Kolumnisten Dr. Nagla Al-Sayyid in der ägyptischen Tageszeitung Al-Gumhouriyya:

Die Hamas hat der palästinenischen Sache Schaden zugefügt und sich als eine idiotische und gescheiterte Bewegung erwiesen.“[15]

Am 13. Juli erklärte der saudische Kolumnist Nasser Al-Sarami in Al-Jazirah :

Während die armen wehrlosen Menschen den Raketen und Panzern ausgeliefert werden, fliehen die Djihadisten und die Führer der Bruderschaft in die befestigten Höhlen, die sie für sich selbst vorbereiteten.“[16]

Am 26. Juli schrieb der ehemalige saudischer Botschafter in den USA, Prinz Turki Al-Faisal, in der in London erscheinenden Al-Sharq Al-Awsat:

Die Palästinenser brauchen „eine Führung, die ihre beständige Kriegsambition beiseitelegt und ihre Anstrengungen dem Erreichen von Frieden widmet.“[17]

Am 8. August erklärte der libanesische Kolumnist Khairallah Khairallah in der Kuwaitischen Zeitung Al-Rai:

Ist irgendjemand gewillt, zuzuhören und von der jüngsten und früheren Vergangenheit zu lernen? Oder glaubt die Hamas, sie könne Palästina und Jerusalem ebenso befreien, wie sie den Gazastreifen 2007 von der Fatah befreite?“[18]

Am 10. August appellierte der Geistliche Othman Al-Khamis in Kuwait an die Hamas und erklärte in einer im Internet veröffentlichten Rede:

Zeigt um Gottes willen etwas Beachtung für die Leben der Muslime, die getötet wurden. … Wer ist dafür verantwortlich? Warum wurden sie getötet? … Ihr sollt den Feind nicht bekämpfen, wenn ihr keine Chance habt, zu gewinnen. Es geht ums Gewinnen, nicht ums Sterben.“[19]

Abschließend das eindrucksvolle Plädoyer des Palästinensers Bassam Eid vom 9. August 2014:

Die Mehrheit der Palästinenser war gegen die Raketenbeschüsse auf Israel. Die Palästinenser haben kapiert, dass diese Raketen nichts bewirken werden. Palästinenser haben die Hamas aufgerufen, mit dem Beschießen Israels aufzuhören und zu versuchen, mit der israelischen Besatzung zu verhandeln. Doch die Hamas hat niemals die Bedürfnisse der Palästinenser in Erwägung gezogen, sondern nur ihre eigenen Interessen. Also haben sie mit ihren Raketenschüssen auf Israel weitergemacht, im vollen Wissen um die zu erwartenden Resultate: Die Hamas bereitete den Weg für den Tod unserer Leute. (…)
Die Hamas braucht diese Tötungen, um von Sieg sprechen zu können. Der Tod der eigenen Leute macht die Hamas mächtiger und befähigt sie, mehr Geld und mehr Waffen anzuhäufen. (…)
Werden diese Toten – derzeit nahezu 1.800, fast 0,1 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens – eine Lehre erteilen, die wir nie vergessen werden? Die Lehre besteht darin, dass wir uns selbst von der Hamas befreien müssen und Gaza komplett demilitarisieren müssen. Dann werden wir Grenzübergänge öffnen. Ich sage dies als loyaler Palästinenser und deshalb, weil ich für meine Leute Sorge trage.“[20]

Man muss schon „Nahost-Experte“ sein, um in einer Stellungnahme zum Gaza-Krieg nicht nur diese Einschätzungen, sondern auch die Fatah selbst zu ignorieren. Und man muss ein Dampfplauderer vom Schlage eines Michael Lüders sein, um die Hamas im Deutschlandfunk als „die einzige Institution“ zu bezeichnen, „mit der sich die Menschen im Gaza-Streifen identifizieren können.“[21]

Natürlich kann das Ausmaß an Tod und Verstümmelung und die Spur der Verwüstung im Gaza-Streifen spontane Aktivitäten auslösen, die weniger einer bestimmten Analyse als vielmehr der Eingebung des Herzens folgen.

Bei dem „Offenen Brief“ an die Bundesregierung sind aber keine emotional aufgewühlte Laien, sondern „Experten“ am Werk, Fachleute also, die bezahlt werden und auf deren Urteil sich der Durchschnittsbürger verlassen können muss. Mildernde Umstände kann es da nicht geben.

Der „Offene Brief“ fällt den Palästinensern in den Rücken, die für Freiheit und Frieden, d.h. gegen die Hamas kämpfen. Er erschwert friedliche Lösungen, weil er die moderaten Kräfte der Palästinenser ignoriert und auf das islamistische Lager setzt. Er begünstigt den Judenhass auf deutschen Straßen, weil er vom Antisemitismus der Hamas nichts wissen will.

Zusätzlich hat er den Berufsstand des „Nahost-Experten“ desavouiert. Dies zumindest mag ein Fortschritt sein.



ANMERKUNGEN



[12] „Die israelische Zivilbevölkerung hat ein Recht auf Leben ohne Angst“, heißt es in dem „Offenen Brief“. „Das gilt ebenso für alle Palästinenserinnen und Palästinenser.“ Es ist kein Zufall, dass einzig den bewaffneten Israelis kein „Recht auf Leben ohne Angst“ zugestanden wird.

[13] Das Zerwürfnis zwischen Arafat und Abbas. Hans-Joachim Wiese im Gespräch mit Helga Baumgarten, auf: DeutschlandRadio Online, 22. April 2003. In einem erst kurz zurückliegenden Interview verteidigt Helga Baumgarten die Hamas-Politik wie folgt: „Hamas ist eine politische Partei. Diese Partei fordert, so ihr politisches Programm vom Januar 2006, ganz ähnlich wie die Fatah, die Errichtung eines palästinensischen Staats im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem.“ Die Hamas-Forderungen seien ganz einfach: „Lasst uns normal leben in Koexistenz mit Israel.“ Frau Baumgarten erzählte hier Unsinn. Im Programm von 2006, dass sie in ihrem Hamas-Buch dokumentiert, heißt es: „Ja zu einem freien, unabhängigen und souveränen palästinensischen Staat auf dem gesamten Gebiet der Westbank, des Gazastreifens und Jerusalems ohne Verzicht auf einen Zoll des historischen Palästinas.“ Die Koexistenz mit Israel wird also abgelehnt. Für gegenteilige Behauptungen gibt es nicht ein Spurenelement des Beweises. (Hamas ist ,zu politischen Lösungen‘ bereit. Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten warnt jedoch vor Radikalisierung der Jugend, auf: Deutschlandradio Kultur, 21. Juli 2014.)

[14] Palestinian Columnist: Hamas Did Not Win The War, Only Brought Suffering Upon Gazans, in: The Middle East Media Research Institute (MEMRI), Special Dispatch No. 5819, 11. August 2014. Sämtliche Übersetzungen stammen vom Autor.

[15]The Current Gaza Conflict: Arab World Losing Patience With Hamas, in: MEMRI; Special Dispatch No. 5796, 16. Juli 2014.

[16] Ebd.

[17] Despite Cairo Talks, Wave Of Arab World Condemnations Of Hamas Continues: This Was No Victory; Hamas’ Foot-Dragging On Egyptian Initiative Increased Palestinian Losses; Hamas Should Be Replaced By Peace-Seeking Leadership, in: MEMRI, Special Dispatch No. 5822, !8. August 2014.

[18] Ebd.

[19] Kuweiti Cleric Othman Al-Khamis Critizies Hamas: Show Some Regard for the Lives of Muslims, in: MEMRI, Clip No. 4416, 10. August 2014.

[20] Bassam Eid, Hamas needs the Palestinian’s deaths in order to claim victory, 9. August 2014, auf: http://www.i24news.tv/en/opinion/39587-140808-hamas-needs-the-palestinians-deaths-in-order-to-claim-victory

[21] „Eine Schande für Deutschland“. Michael Lüders im Gespräch mit Christine Heuer, in: Deutschlandfunk, 20. August 2014.