Abgestürzt! Über den Zustand der Antisemitismusforschung in Deutschland, Teil 1

 

Matthias Küntzel und Redaktion

 

Hamburg (Weltexpresso) – Die „Selbst-Schuld-Studie“ nannte die Wochenzeitung JUNGLE WORLD die Ausführungen von Matthias Küntzel, die sie leicht gekürzt abgedruckt hatten. Es handelt sich um eine Kritik am Forschungsbericht »Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin«, den das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin im Auftrag der Landeskommission Berlin gegen Gewalt erstellt hat.

 

Wir entnehmen den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors seiner Webseite und teilen ihn der Länge wegen. Es ist wichtig, diesen Beitrag einordnen zu können in den Kontext der bisherigen Veröffentlichungen vom ausgewiesenen Experten Matthias Küntzel, der journalistisch mit einer wissenschaftlichenSorgfalt arbeitet, die selten geworden ist. Er hatte im November 2008 die Stellungnahme: „Das Zentrum für Antisemitismusforschung auf Abwegen“ veröffentlicht. Damals ging es um die ZfA-Tagung „Feindbild  Muslim – Feindbild Jude“ und das dazugehörige Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2008.

 

Das Vorwort von Professor Benz im Jahrbuch 2008“, schrieb er damals,  macht die verfehlte Weichenstellung manifest. Es richtet den Focus auf das weltweite „antiislamische Ressentiment“ und widmet der ersten offen antisemitischen Aufstachelung vor dem Forum der Vereinten Nationen [durch Mahmoud Ahmadinejad] kein Wort. Vielleicht spitzt sich diese Logik zu. Vielleicht wird, je offenkundiger der islamische Antisemitismus sein Gefahrenpotential mobilisiert, umso eifriger das „Zentrum für Antisemitismusforschung“ zu einem „Zentrum gegen Antisemitismusvorwürfe“ mutieren.“

 

Leider hat die Studie „Antisemitismus als Problem und Symbol“, die das „Zentrum“ Anfang Januar 2015 vorlegte, diese pessimistische Prognose eher bestätigt, denn widerlegt, folgert der Autor. Die Redaktion



Kreuzberg, April 2014: Ein 31jähriger verlässt seine Wohnung und wird von sechs jungen Arabern nach seiner Herkunft gefragt. Er outet sich als Israeli und wird daraufhin als „dreckiger Jude“ beschimpft und zusammengeschlagen. Der Tagesspiegel berichtet hierüber unter der Überschrift „Antisemitischer Überfall: Mann aus Israel geschlagen.“

 

Diese Schlagzeile ist unzutreffend! – erklären jetzt Michael Kohlstruck und Peter Ullrich. Es gebe „keine hinreichenden Informationen, die es rechtfertigen würden, hier von einem antisemitischen Phänomen auszugehen“. So sei nicht ausgeschlossen, dass die Täter den „(nahost-)politischen Konflikt“ lediglich vor einer Kreuzberger Haustür austragen wollten.[1]

 

Kohlstruck und Ullrich schreiben dies in ihrer kürzlich veröffentlichten Studie „Antisemitismus als Problem und Symbol“. Darin fordern sie, die Verwendung des Wortes „Antisemitismus“ radikal zu reduzieren. Künftig soll dieser Begriff nur dann noch gelten, wenn es um „die Ablehnung von Juden als Juden“ geht. (91) In Kreuzberg aber sei ein Israeli zusammengeschlagen worden; die Schlagzeile „Arabische Jugendliche attackieren Israeli“[2] sei also okay.

 

Das Problem ist damit aus der Welt. Oder vielleicht nicht? Nehmen wir den dänischen Prediger Abu Bilal Ismail. Er forderte im Sommer 2014 in der Neuköllner Al-Nur-Moschee: „Allah, zerstöre die zionistischen Juden, zähle und töte sie bis zum letzten Mann.“[3] Darf man auch in diesem Fall nicht von „Antisemitismus“ reden, weil der Prediger nicht alle Juden, sondern nur alle „zionistischen“ Juden getötet sehen will?

 

Wir könnten es bei dieser – zugegeben rhetorischen – Frage belassen und zu etwas Wichtigerem übergehen, wäre da nicht die Tatsache, dass die 140seitige Broschüre von Kohlstruck und Ullrich eine Studie des „Zentrum für Antisemitismusforschung“ (ZfA) ist, die der Berliner Senat finanziell förderte und über seine Homepage vertreibt. Der Projektleiter, der ihre Erstellung betreute, ist Professor Werner Bergmann, der stellvertretende Leiter des ZfA. Die Leiterin des Zentrums, Professorin Schüler-Springorum lobt in ihrem Vorwort nicht nur „die Qualität der Arbeit, die Sorgfalt von Recherche und Interpretation“, sondern betont, dass die Resultate dieser Studie „in ihrer grundsätzlichen Bedeutung weit über Berlin hinausreichen (10).

 

Diese Ansicht wird auch vom American Jewish Committee in Berlin geteilt oder genauer: befürchtet. Denn das AJC ist über diese Studie entsetzt. Sie verharmlose den Judenhass und stelle „sowohl die zivilgesellschaftliche als auch die politische Arbeit zum Thema Antisemitismus grundlegend in Frage“, heißt es in dem 15seitigen Kritikpapier, das Deidre Berger, Direktorin des AJC, am 5. Februar veröffentlichte.[4]

 

Auch würden hier „Einschätzungen von jüdischen Vertretern abgewertet.“ In der Tat setzt die Studie die als „jüdisch“ bezeichnete Sichtweise auf den Antisemitismus systematisch herab: Sie sei nicht nur „pessimistisch“ und „dramatisierend“, sondern stelle zudem „die Bedrohungen in den Vordergrund“(44).

 

Für die Anfertigung ihrer Arbeit haben Kohlstruck und Ullrich 29 Interviews mit staatlichen und jüdischen Stellen sowie Nichtregierungsorganisationen in Berlin geführt, um deren Haltung zum Antisemitismus und deren Gegenmaßnahmen in Erfahrung zu bringen. Es handle sich um eine „wissenssoziologische Antisemitismusforschung“, schreiben die Verfasser: „Es ist die Sicht einer Beobachtung zweiter Ordnung oder einer Beobachtung der Beobachter/innen.“(20)

 

Es sind aber nicht die empirischen Details, die bei dieser Studie Anstoß erregen, sondern die allgemein-politischen Betrachtungen und Wertungen der Autoren. Deren wichtigste Essentials begründete Peter Ullrich, einer der Autoren, bereits 2013 in seinem Buch „Deutsche Linke und der Nahostkonflikt“ – ein Buch, das das ZfA auf seiner Homepage bewarb.[5] Man muss dieses Buch zur Rate ziehen, um die „grundsätzliche Bedeutung“ der ZfA-Studie zu verstehen. Fortsetzung folgt.

 

 

HINWEIS:

Die Zahlen in herkömmlichen Klammern im Text beziehen sich auf die Seitenangaben der Studie (Michael Kohlstruck und Peter Ullrich: Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin, Heft 52 der Reihe Berliner Forum Gewaltprävention, Berlin 2014) beziehungsweise des Buchs (Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen 2013). Hervorhebungen sind jeweils die der Autoren.

Die Anmerkungen des Autors unten.

 

ANMERKUNGEN:

 

[1] Michael Kohlstruck und Peter Ullrich, Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin, Heft 52 der Reihe Berliner Forum Gewaltprävention, Berlin 2014, S. 84. Die nachfolgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Text.

[2] Arabische Jugendliche attackieren Israeli, Jüdische Allgemeine, 28. April 2014.

[3] Gunnar Schupelius, Berliner Staatsanwälte arbeiten zu langsam, Berliner Zeitung, 21. Oktober 2014.

[4] AJC Berlin Ramer Institute for German-Jewish Relations, Antisemitismus im Deutungskampf, Anmerkungen zur Studie „Antisemitismus als Problem und Symbol – Phänomene und Interventionen in Berlin“ des Zentrums für Antisemitismusforschung, 4. Februar 2015, Berlin.

[5] Peter Ullrich, Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen 2013. Die nachfolgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf dieses Buch.

 

INFO:

http://www.matthiaskuentzel.de/contents/abgestuerzt-ueber-den-zustand-der-antisemitismusforschung-in-deutschland