Abgestürzt! Über den Zustand der Antisemitismusforschung in Deutschland, Teil 2

 

Matthias Küntzel

 

Hamburg (Weltexpresso) – „Probleme mit dem Holocaust“ heißt die nächste Überschrift.Ullrich wendet sich in seinem Buch gegen „ein ganz spezifisches ,Denken nach Auschwitz‘, das den Zwang beinhaltet, mehr oder weniger alle Ereignisse durch die Brille von deutscher ,Schuld und Erinnerung‘ zu betrachten.“ (23)

 

Er steht mit dieser Forderung nicht allein; der Name des Schriftstellers Martin Walser kommt als erstes in den Sinn. So, wie Walser 1998 von der „Auschwitz-Keule“ sprach, so bezeichnete Ullrich in einem Interview mit dem MDR 2013 „den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden“ in einem Interview als „die stärkste moralisch hochgeladene Waffe, die stärkste Keule, mit der man andere delegitimieren kann.“[6]

Anders als Walser erfand Ullrich für das, was ihn stört, ein neues Wort: In seinem Buch bezeichnet er die „Selektivität der Erinnerung“ und die „dauerhafte Fixierung auf die Besonderheit deutscher Erfahrung“ als „deutschen Exzeptionalismus“. (97) Er übersieht dabei, dass nicht das Erinnern an die Shoah außergewöhnlich („exzeptionell“) ist, sondern das Verbrechen selbst.

 

Seinen besonderen Ausdruck, schreibt Ullrich weiter, finde jener „deutsche Exzeptionalismus im Erinnerungsdiskurs und den oft neurotischen und i.d.R. _konflikt_trächtigen Geschichtsdebatten und Befangenheiten, insbesondere in den Diskussionen über die Unvergleichbarkeit der Shoah.“[7]

 

Den Erinnerungsdiskurs als „oft neurotisch“ zu bezeichnen – das ist ein Standpunkt, der bei einem „wissenschaftlichen Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung“, so der Klappentext des Buches, erstaunt. Ullrichs Abneigung gegen „Auschwitz-Keule“ und Erinnerungskultur prägt aber auch die ZfA-Studie „Antisemitismus als Problem und Symbol“.

 

Darin bezeichnen Kohlstruck und Ullrich den angeblich „omnipräsente(n) Vergangenheitsbezug“ als „problematisch“, da durch ihn beim Thema Antisemitismus ein „exzeptioneller moralischer Maßstab“ angelegt werde. Sie denunzieren dies als „Moralkommunikation“. (21)

 

Dieser Moralismus sei daran schuld, dass die Akzeptanz („nüchterne Bewertung“) von antisemitischen Äußerungen, die sie für harmlos halten, „blockiert“ werde. Er sei dafür verantwortlich, dass das „ritualhafte Anbringen … überzogener Antisemitismusvorwürde“ begünstigt und „Antisemitismus als eine dämonisierte Kategorie“ verwendet werde. (22)

Während es für die meisten Antisemitismusforscher nur ein einziges tragendes Motiv gibt, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen, nämlich ihm Widerstand entgegenzusetzen, scheint das Forschen des ZfA einem anderen Ziel zu dienen: Es will dem deutschen Antisemitismusdiskurs seinen historischen Stachel ziehen. Warum aber rennen die Autoren so wütend gegen die Macht der Erinnerung als ein Zentralmotiv gegenwärtigen Engagements gegen den Antisemitismus an?

 

Die Haltung der Autoren gegenüber Israel scheint zumindest eines der Motive zu sein. Wie in vielen anderen Fällen, so geht auch hier die Weigerung, bei Auschwitz genauer hinzusehen, mit einem schrägen Blick auf Israel einher.

Aversionen gegen Israel gehören zum deutschen Alltag. Treten sie jedoch bei Antisemitismusforschern auf, so ist das so, als wäre Rassismusforschern die Abschaffung der südafrikanischen Apartheid egal gewesen.

Wer wirklich über Rassismus forscht, wem also die Leidensgeschichte der Schwarzen bewusst ist, wird gar nicht anders können, als die Überwindung der Apartheid in Südafrika prinzipiell und von Herzen zu begrüßen, auch wenn er an der Politik des heutigen Südafrika etwas auszusetzen hat.

Auf den Judenhass übertragen bedeutet dies: Wer wirklich über Antisemitismus forscht, sich also der Leidensgeschichte der Juden bewusst ist, wird gar nicht anders können, als die Existenz eines jüdischen Staates prinzipiell und von Herzen zu begrüßen, auch wenn er an der Politik des heutigen Israel etwas auszusetzen hat.

Solch Parteinahme für jüdische Selbstbestimmung und für den jüdischen Staat konnte ich in der jüngsten ZfA-Broschüre (wie auch in allen anderen mir bekannten ZfA-Publikationen) nicht finden – oder habe ich etwas übersehen?

 

 

Aversion gegen Israel

 

Auch hinsichtlich ihres Umgangs mit Israel lässt sich die ZfA-Broschüre besser verstehen, wenn wir zunächst Peter Ullrichs Buch in Augenschein nehmen. Ullrich, der aus seiner Nähe zur Linkspartei keinen Hehl macht, gefällt sich in diesem Buch in der sympathischen Figur eines Neutralen, der die „binäre Struktur“ im Diskurs der deutschen Linken – hier die 150prozentigen Israelverehrer, dort die 150prozentigen Palästina-Fans – aufbrechen will.

Von einer neutralen Haltung zu Israel kann jedoch keine Rede sein, wie der folgende Buchausschnitt beweist:

Das Schlagwort von der ,einzigen Demokratie im Nahen Osten‘ leitet ein affirmatives Zerrbild von Israel, welches bestenfalls etwas mit dem bunten Nachtleben von Tel Aviv zu tun hat. Nicht in dieses Bild passen einerseits die (…) auf dauerhafte Erniedrigung und Enteignung der Palästinenser/innen ausgerichtete Kontinuität und stete Vertiefung der Besatzung und andererseits die extrem autoritäre Entwicklung in Israel selbst: vom zunehmenden Einfluss der Ultraorthodoxen (…) über den (…) Großmachtdiskurs und offiziellen Rassismus bis hin zum voranschreitenden Sozial- und Demokratieabbau.“(24)

Was, bitte schön, hat ein buntes Nachtleben mit Demokratie zu tun? Dem Autor scheint nicht geläufig zu sein, dass Demokratien gewisse Qualifizierungsmerkmale wie Gewaltenteilung, freie Meinungsäußerung und Unabhängigkeit der Justiz haben – Merkmale, die mit bunten Nächten nichts zu tun haben, Merkmale, über die Israel jedoch verfügt und die es von all seinen Nachbarn unterscheidet.

 

Ullrich spricht auch nicht einfach von „Besatzung“, sondern konstatiert eine „auf dauerhafte Erniedrigung und Enteignung … ausgerichtete Kontinuität und stete Vertiefung der Besatzung“. Sein Text verwendet das Stakkato der Empörung, lässt aber historischen Ereignissen, wie der Räumung des Gaza-Streifens durch Israel keinen Raum. Da, wo Ullrich Belege anführt, halten sie – zumindest bei den von mir gemachten Stichproben – der Überprüfung nicht stand. Ullrich schreibt:

Die ethnische Segregation von Buslinien und die heimlich praktizierte Zwangssterilisation äthiopischer Jüdinnen sind weitere aktuelle Beispiele eines tief verankerten Rassismus innerhalb Israels.“(92)

 

Für die erste Behauptung –„ethnische Segregation“ – verweist er auf einen Artikel in der britischen Tageszeitung Guardian, der jedoch das Gegenteil besagt: Hier ging um einen Busservice, der speziell für Gastarbeiter aus dem Westjordanland in Israel eingerichtet wurde, der aber, wie der Artikel betont, auch von Juden genutzt werden kann. [8]

Während es in diesem Fall immerhin einen Anknüpfungspunkt gab, ist die „heimlich praktizierte Zwangsterilisation“ ein Produkt der Phantasie. Erstens spricht bereits der Titel des von ihm als Quelle genannten Artikels von „Geburtenkontrolle“, nicht von „Zwangssterilisation“; zweites hatte die israelische Regierung dieser Quelle zufolge auch die Verabreichung von Anti-Babyinjektion ohne die ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Frauen untersagt. Drittens lässt sich der hier erwähnte Umstand, dass Israel 100.000 äthiopische Juden in sein Land kommen ließ, mit Ullrichs Verdikt vom „offiziellen Rassismus“ schwerlich vereinbaren.[9]

 

Leider wirkt sich Ullrichs Parteilichkeit auf seine Haltung zum israelbezogenen Antisemitismus aus, sei es, dass er die antisemitische Hamas als „hauptsächlich antizionistisch“ charakterisiert und internationale Verhandlungen mit ihr begrüßt10, sei es, dass er antiisraelische Aktivitäten verteidigt, die nach den gängigen Definitionen die Grenze zum Antisemitismus überschreiten.

 

Ullrich behauptet, dass der Boykott von Israel, auch wenn man den jüdischen Staat als weltweit einziges Land damit belegt, „sicher nicht an sich antisemitisch“ sei (170). Auch der Vergleich „von Aspekten israelischer und nationalsozialistischer Politik“ müsse „möglich sein und wird auch vielfach praktiziert.“(76) Selbst „die Ablehnung eines Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes‘“ (d.h. die Ablehnung des Existenzrechts Israels) sei nicht unbedingt antisemitisch motiviert. Sie „kann genauso gut auch Ausdruck einer generellen antinationalen Orientierung sein.“(75)

 

Einer der Fürsprecher jener „antinational-internationalistischen Idee“, die sich die „Auflösung nationaler und religiöser Partikularismen“ zu ihrer Aufgabe macht, ist Ullrich selbst. So lässt er Sympathien für den bei Nobert Kapferer kritisch verwendeten Begriff des „Erlösungs- oder Auflösungsantisemitismus“ erkennen, weil dieser „die Jüdinnen und Juden nicht um jeden Preis als ,Volk‘ anerkennen und erhalten will.“[11] Die Juden als Volk nicht erhalten zu wollen, und die Kategorie „Volk“ heute schon in Anführungszeichen zu setzen – diese Haltung ist selbst für einen Sympathisanten der Linkspartei bemerkenswert.

 

Ullrich darf natürlich schreiben, was er will. Erstaunlich ist allein der Umstand, dass das „Zentrum für Antisemitismusforschung“ ihn und das hier zitierte Buch protegiert. So wurde es der Öffentlichkeit erstmals auf einer gemeinsamen Veranstaltung von „Zentrum“ und Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgestellt; der stellvertretende ZfA-Leiter, Professor Werner Bergmann, leitete die Veranstaltung.[12] Fortsetzung folgt.

 

 

HINWEIS:

Die Zahlen in herkömmlichen Klammern im Text beziehen sich auf die Seitenangaben der Studie (Michael Kohlstruck und Peter Ullrich: Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin, Heft 52 der Reihe Berliner Forum Gewaltprävention, Berlin 2014) beziehungsweise des Buchs (Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen 2013). Hervorhebungen sind jeweils die der Autoren.

Die Anmerkungen des Autors unten.

 

ANMERKUNGEN:

 

[6] Mitteldeutscher Rundfunk (MDR), Figaro trifft … Dr. Dr. Peter Ullrich, 18. September 2013. Das Interview wird auf Ullrichs Homepage annonciert (https://textrecycling.wordpress.com/2013/09/20/mdr-figaro-traf/ ) und im Text gemäß der Mitschrift des Verfassers zitiert.

[7] Peter Ullrich, Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt, a.a.O., S. 98, Hervorhebung im Original.

[8] http://www.theguardian.com/world/2013/mar/04/israel-palestinians-only-bus

[9] http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/israel-gave-birth-control-to-ethiopian-jews-without-their-consent-8468800.html

[10] P. Ullrich, Antisemitism, Anti-Zionism and Criticism of Israel in Germany. The Dynamics of a Discursive Field, Beitrag anlässlich der Konferenz “Antisemitism in Europe Today”, Berlin, 8./9. November 2013, S. 2 sowie P. Ullrich, Empathie mit allen Leidtragenden, in: Neues Deutschland, 1. Dezember 2012.

[11] P. Ullrich, Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt, a.a.O., S. 144. Ullrich erweckt den Eindruck, als behandle der Philosophieprofessor Norbert Kapferer die „antinational-internationalistische Idee“ und den „Erlösungs- oder Auflösungsantisemitismus“ synonym. In Kapferers Aufsatz wird „die auf Marx zurückgehende Tradition des humanistische argumentierenden Erlösungs- oder Auflösungs-Antisemitismus“ jedoch scharf kritisiert. Vgl. Norbert Kapferer, Das Feindbild ,Zionismus‘ in der marxistisch-leninistischen Ideologie, in: Silke Satjukow (Hg.), Unsere Feinde: Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 317.

[12] http://www.rosalux.de/documentation/49272/deutsche-linke-und-der-nahostkonflikt-1.html .

 

 

INFO:

http://www.matthiaskuentzel.de/contents/abgestuerzt-ueber-den-zustand-der-antisemitismusforschung-in-deutschland