Abgestürzt! Über den Zustand der Antisemitismusforschung in Deutschland, Teil 4

 

Matthias Küntzel

 

Hamburg (Weltexpresso) – Eigentlich war es eine gute Idee, anlässlich des 75. Jahrestags der Reichspogromnacht gerade in Berlin eine internationale Konferenz über „Antisemitism in Europe Today“ durchzuführen. Veranstalter waren die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung Zukunft“, das Jüdische Museum Berlin sowie das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung.

 

 

Zwar gab es einige ausgezeichnete Vorträge über den gegenwärtigen Judenhass in Ungarn, Schweden, Frankreich oder der Ukraine, doch lagen einige der vom Zentrum eingebrachte Entscheidungen wie schwere Schatten über der Konferenz.

 

Dazu gehört zum einen der provokante oder ignorante Umgang mit den Juden. So begann diese Konferenz aus Anlass der Reichspogromnacht an einem Freitagnachmittag und dauerte bis Samstagabend. Diese Terminsetzung schloss Juden, die die von Freitagabend bis Samstagabend geltenden Schabbat-Gebote befolgen, a priori aus.

 

Dazu gehört zum anderen der Widerwille, den gegenwärtigen Antisemitismus im Lichte der Erfahrungen des Holocaust zu betrachten. So gingen weder der Aufruf zu dieser Konferenz noch deren Programm auf das historische Ereignis von 1938 ein. Selbst die Reden, mit denen Stephanie Schüler-Springorum die Konferenz am 8. November eröffnete und am 9. November beschloss, ließen die Ereignisse von November 1938 aus.

Dazu gehört drittens die Ranküne gegenüber Israel. So wurde in der Konferenzankündigung Israel nur in einer einzigen Rolle erwähnt: als Auslöser für das, was man den „neuen Antisemitismus“ nennt. „The conference will address (…) the so called ,new antisemitism‘, sparked off by Israel’s policies in the Middle Eastern conflict“, so der Wortlaut der besagten Passage.[18]

 

Mit dieser Formulierung werden Juden an hervorgehobener Stelle und aus Anlass des 9. November 1938 für den neuen Antisemitismus verantwortlich gemacht – eine wahrhaft reife Leistung!

 

Als ich während der Konferenz einige der Verantwortlichen darauf ansprach, kritisierte einer meiner Gesprächspartner diesen Passus als „Schlamperei“ – auch er wusste, dass Antisemitismus niemals jüdischem Verhalten, sondern, wenn überhaupt, einer völlig verzerrten Wahrnehmung dieses Verhaltens entspringt. Ein anderer brachte die Möglichkeit eines „Übersetzungsfehlers“ ins Spiel. Es war allein Werner Bergmann, der diesen Passus mir gegenüber mit Verweis auf Israels Verhalten 2002 in Jenin verteidigte.

 

Mit „Jenin“ ist ein im April 2002 durchgeführter Einsatz der israelischen Armee im Flüchtlingslager Jenin gemeint, dem ein Selbstmordattentat der Hamas auf eine Hochzeitsgesellschaft in Netanja (30 Tote, 140 Verletzte) vorausgegangen war. Die in Windeseile verbreiteten Behauptungen über Massaker an Palästinensern mit Hunderten von Toten erwiesen sich später als gefälscht. Der Einsatz kostete 23 Israelis und 52 Palästinensern, darunter 22 Zivilisten, das Leben.

 

Viertens aber wurde selbst bei dieser Konferenz das vermeintliche Problem der Antisemitismusvorwürfe in den Mittelpunkt gerückt. So lud das Zentrum als Hauptredner den britisch-jüdischen Philosophen Brian Klug ein, der seit langem vor überzogenen Antisemitismusanschuldigungen warnt.

 

Seine Rede spielte den Antisemitismus erwartungsgemäß herunter, um sich auf die Gefahren der Vokabel Antisemitismus zu konzentrieren. Antisemitismus, warnte Klug, sei ein „gefährliches“ Wort, da es mit Geschichte aufgeladen sei. Es sei „monströs“, diesen Vorwurf zu Unrecht zu erheben.

 

Den Schwerpunkt seines Vortrags bildeten fünf Szenen aus dem Londoner Alltag, bei denen eine Busfahrerin jeweils einen Rabbi aus ihrem Bus entfernt. Der Redner wollte mit diesen Szenarien demonstrieren, dass die Fahrerin diesen Jude in vier der fünf Fälle ohne antisemitische Motivation aus dem Bus geschmissen hat – eine wahrhaft beschauliche Fiktion, die den Blick auf die Welle des neuen Antisemitismus in Europa aber verdeckt.[19]

Wir sehen: Die zentralen Prämissen der neuen ZfA-Broschüre – Widerwillen gegen die Thematisierung des Holocaust, Aversion gegen Israel, Dramatisierung des Themas „Antisemitismus-Vorwürfe“ – begleitet die Arbeit des Zentrums bereits seit Längerem, ohne dass die Öffentlichkeit hiervon Kenntnis nimmt.

 

Erst jetzt provozierte die ungeschminkte Präsentation dieser Ausrichtung durch Kohlstruck und Ullrich eine gewisses Maß an öffentlicher Empörung und eine Distanzierung maßgeblicher jüdischer Vertreter und Organisationen von der deutschen Antisemitismusforschung, soweit das ZfA sie repräsentiert.

 

Am 1. Februar 2015 veröffentlichte Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung einen sarkastischen Kommentar zum ZfA, das die jüdische Perspektive „subjektiv und irgendwie übertrieben“ finde. Den Antisemitismus zu beurteilen, sei „offenbar Sache der deutschen Gesellschaft, also der Nicht-Juden. Wohl auch aus diesem Grunde arbeitet im Zentrum für Antisemitismusforschung kein einziger Jude. Sie sind aus ihrer vermeintlichen Opferperspektive dafür offenbar zu befangen.“[20]

 

Am 5. Februar 2015 trat Deidre Berger, die Direktorin des American Jewish Committee in Berlin, mit ihrer ausführlichen Kritik des jüngsten ZfA-Berichts an die Öffentlichkeit.

Am 9. Februar folgte die scharfe Kritik von Julius H. Schoeps, dem Gründungsdirektor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Es sei „ein einzigartiger Skandal“, dass in der neuen Antisemitismus-Kommission beim Bundesinnenministerium kein einziger Jude Mitglied sei. So käme niemand auf die Idee, eine Konferenz gegen Islamhass ohne Muslime oder einen Antirassismus-Konvent ohne People of Color durchzuführen.[21]

 

Der öffentliche Aufschrei und die internationale Kritik, die auf Schoeps‘Äußerung folgten, machen deutlich, dass man Antisemitismusforschung in Deutschland eigentlich nur mit Juden, nicht gegen sie betreiben kann.

 

Inzwischen hat das ZfA reagiert und einen Offenen Brief an die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen adressiert, der diese auffordert, die „jüdische Perspektive … im Expertenkreis Antisemitismus zu verankern.“[22]

 

Was das ZfA unter „jüdischer Perspektive“ versteht, bleibt freilich offen. Das Papier von Kohlstruck und Ullrich hat jedenfalls mit Wissenschaft wenig und mit „jüdischer Perspektive“ gar nichts zu tun: Es sollte eingestampft, das hierfür vom Senat kassierte Geld zurückgezahlt und die für das Debakel Verantwortlichen entlassen werden.

 

 

HINWEIS:

 

Die Zahlen in herkömmlichen Klammern im Text beziehen sich auf die Seitenangaben der Studie (Michael Kohlstruck und Peter Ullrich: Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin, Heft 52 der Reihe Berliner Forum Gewaltprävention, Berlin 2014) beziehungsweise des Buchs (Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen 2013). Hervorhebungen sind jeweils die der Autoren.

Die Anmerkungen des Autors unten.

 

ANMERKUNGEN:

 

[18] http://www.tu-berlin.de/fileadmin/i65/Veranstaltungen/2013/11/ConferenceProgram_Antisemitism_in_Europe.pdf

[19] Klugs Vortrag ist hier dokumentiert: http://www.jmberlin.de/antisemitism-today/Klug.pdf.

[20] Anetta Kahane, Die deutsche Sündengemeinschaft, Frankfurter Rundschau, 1. Februar 2015.

[21] Bund setzt Antisemitismus-Kommission ohne Juden ein, in: Welt, 10. Februar 2015.

[22] Bildungsstätte Anne Frank und Zentrum für Antisemitismusforschung, Offener Brief zur Kritik an der Besetzung des Expertenkreises Antisemitismus durch das Bundesministerium des Innern, auf: http://www.tu-berlin.de/fileadmin/i65/Dokumente/Offener_Brief_Expertenkreis_Antisemitismus

 

 

INFO:

http://www.matthiaskuentzel.de/contents/abgestuerzt-ueber-den-zustand-der-antisemitismusforschung-in-deutschland