Das Riesengebirge - verstaubte Kulisse Heimat. Ein Wiedersehen nach 40 Jahren, Teil 1

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Unsere Artikelfolge AUF TOUR IM RIESENGEBIRGE von Harald Lutz hat nun wiederum unseren Autor Kurt Nelhiebel an seine erste Reise in die alte Heimat 1991 erinnert. Uns hat sein Text, der als Hörfunk-Essay für Radio Bremen damals gesendet wurde, so gefallen, daß wir ihn um die Erlaubnis zum Abdruck baten und hoffen nun, daß uns jemand schreibt, wie es heute dort ist. Die Redaktion.

 

Auf dem Weg zurück in die Kindheit

 

Nun bin ich den zweiten Tag unterwegs in meine alte böhmische Heimat am Fuße des Riesengebirges. Auf den schlechten Straßen durch die ehemalige DDR habe ich so viel Zeit verloren, dass ich in Bad Schandau eine Übernachtungspause einlegen musste. Den benachbarten Grenzübergang zur Tschechoslowakei passierte ich am Morgen ohne längeren Aufenthalt. In Děcin, dem ehemaligen Tetschen, verließ ich das Elbesandstein-Gebirge und wandte mich dem Lausitzer Hochland zu. Inzwischen habe ich Česká Kamenice (Böhmisch-Kamnitz) und Bor (Haida) hinter mir und fahre in Richtung Jeschkengebirge.

 

Anders als die Verkehrswege zwischen Magdeburg und Dresden lassen sich die Straßen hier gut befahren. Nur in den Ortschaften scheint sich niemand um die Schlaglöcher zu kümmern. Am Vormittag tauchen zwischen blühenden Obstbäumen die Dächer einer Stadt auf, deren Silhouette von einer mächtigen Kirchenkuppel überragt wird. Der Landkarte nach müsste das mein Geburtsort Deutsch-Gabel, früher Německé Jablonné, sein. Auf der linken Straßenseite pflückt ein Mann an der Böschung Löwenzahnblätter. Ich halte und drehe das Fenster herunter. „Guten Tag” rufe ich auf Tschechisch. Der Mann wendet den Kopf und richtet sich auf. Ob das Joblonné sei, frage ich. Den Beinamen lasse ich weg. Er gehört nicht mehr zur offiziellen Bezeichnung, und ich bin nicht auf eine Provokation aus. „Ja, das ist richtig”, bekomme ich zur Antwort. Ich bedanke mich und fahre weiter. Im Rückspiegel sehe ich, dass der Mann dem Auto mit Bremer Kennzeichen lange nachschaut. Anscheinend habe ich ihn in Zweifel über meine Identität gestürzt. Er kann ja nicht wissen, dass ich zwar einige Wörter der tschechischen Umgangssprache akzentfrei im singenden Tonfall beherrsche, ansonsten aber mit der Hochsprache wenig anfangen kann.

 

Die Stadt rückt näher. Mit den roten Dachziegeln und dem Patinagrün der Kirchenkuppel macht sie einen anheimelnden Eindruck. An der Ortseinfahrt halte ich. Wie ein Keulenschlag trifft mich das Bild des Verfalls, dessen ganzes Ausmaß sich bei näherem Hinsehen in aller Trostlosigkeit offenbart. Von verwitterten Wänden bröckelt der Putz und hinter blinden Fensterscheiben hängen verstaubte Gardinen. Andere sind notdürftig mit Brettern vernagelt. Wie betäubt stehe ich auf dem Marktplatz mit der Pestsäule aus dem 17. Jahrhundert. Noch ein kurzer Blick in die Runde, dann wende ich mich ab und eile zu meinem Wagen. Dabei wollte ich doch mein Geburtshaus suchen. Geschockt sitze ich hinter dem Steuer und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Was wird mich wohl am Ziel meiner Reise erwarten, in jenem abgelegenen Winkel im Nordosten von Böhmen, wohin es die Familie wenige Wochen nach meiner Geburt verschlagen hat? Wird die Erinnerung an das frühere Aussehen vertrauter Plätze nicht alles noch viel schlimmer machen? 45 Jahre sind vergangen, seit ich die Stätten meiner Kindheit und Jugend zum letzten Mal sah. In einem Viehwaggon musste ich die Heimat verlassen - nun kehre ich im eigenen Auto zurück. Aber in mir ist nicht der Funke eines Triumphgefühls. Unsicher fühle ich mich und beklommen. Mir ist überhaupt nicht danach, ein Heimatlied anzustimmen und das Riesengebirge als deutsches Gebirge zu preisen.

 

War das denn nicht die Wurzel allen Übels, dass die Deutschen für sich beanspruchten, was auch den Tschechen gehörte und umgekehrt? Dieses Land war nicht dafür ausgelegt, Besitzansprüche auszutragen; es konnte nur im Miteinander gedeihen. Solange ich denken kann, war mein Vater von der Notwendigkeit dieses Miteinander zutiefst überzeugt. Schon früh geriet er deswegen in Konflikt mit jenen Landsleuten, die lautstark nach Selbstbestimmung riefen und dabei nur eines im Sinn hatten: die Zerstörung der ungeliebten Tschechoslowakei.

 

 

Ihr Wortführer Konrad Henlein hat das später - als Statthalter Hitlers im Gau Sudetenland - unumwunden zugegeben. Sein anmaßendes Auftreten gegenüber der Regierung in Prag fand bei den Bewohnern der deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens und Mährens großen Anklang. Bei der Kommunalwahl im Mai 1938 entschieden sich 90 Prozent der Stimmberechtigten für Henleins Sudetendeutsche Partei. Als die Besetzung des Sudetenlandes durch die Truppen Hitlers unmittelbar bevorstand, klopfte es nachts an unserer Tür. Vater war gekommen und sagte zu unserer Mutter: „Gib mir die Kinder mit.” Mein Vater war damals Gewerkschaftssekretär in Reichenberg. Die Zentrale hatte ihn aus Sicherheitsgründen nach Prag beordert, von wo aus er nach England emigirieren sollte. Die Eltern lebten seit langem getrennt und Mutter willigte nicht darin ein, meine Schwester und mich herzugeben. Weshalb mein Vater schließlich im Lande blieb, habe ich als Elfjähriger nicht ganz durchschaut.

 

Kurz darauf marschierten die Soldaten aus dem „Reich” bei uns ein. Begeistert hüpften die deutschen Kinder vor den Häusern herum. Ich blieb in der Wohnung und vernahm bedrückt ihre Heil-Rufe. Ein Gefühl der Verlassenheit überfiel mich. Ähnliches hatte ich Anfang der dreißiger Jahre erlebt, als mich tschechische Kinder beschimpften und vertrieben, weil ich mit der Mütze nach der Nationalflagge vor dem Kindergarten geworfen und das rot-weiß-blaue Fahnentuch dadurch angeblich verächtlich gemacht hatte. Beide Male spürte ich das Verlangen, zu den anderen zu gehören und mich in ihrem Kreis geborgen zu fühlen. Aber etwas Fremdes lag zwischen uns, das ich mir nicht erklären konnte. Verloren kam ich mir vor und verlassen, wie ein Wanderer zwischen den Welten. Deutsch war meine Muttersprache, aber ich empfand keine Abneigung gegen das Tschechisch der Kinder aus der Nachbarschaft, deren Sprache ich spielerisch erlernte. Immer war mir unbehaglich zu Mute, wenn die eine Seite auf die andere los ging, wie das im Sprachgrenzgebiet häufig passierte. Fortsetzung folgt.

Foto:

Aus der Schulzeit, ganz rechts vorne der Autor

 

(Ein Hörfunk-Essay für Radio Bremen, gesendet am 4. November 1991)