Das Riesengebirge - verstaubte Kulisse Heimat. Ein Wiedersehen nach 40 Jahren, Teil 2

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Das Entweder - Oder liegt mir bis heute nicht. Wahrscheinlich rührt das daher, dass meine Vorfahren aus Mähren stammen, das über Jahrhunderte hinweg als Durchzugsland Begegnungsstätte unterschiedlicher Kulturen war. Mehr als anderswo gingen die Menschen hier aufeinander zu, so dass sich allmählich Verträglichkeit und die Bereitschaft zum Kompromiss als hervorstechende Charaktereigenschaften herausbildeten.

 

Als schwerblütig aber musisch galt der Menschenschlag in der engeren Heimat meiner Mutter, am Südhang des Altvatergebirges. Leo Slezak, der weltberühmte Tenor, mit dem meine Mutter als junges Mädchen in Mährisch-Schönberg auf der Bühne gestanden hat, war hier zu Hause, auch die Eltern von Franz Schubert stammten von hier. Nachdem 1918 die Tschechoslowakische Republik aus der Taufe gehoben worden war, baute sich freilich auch hier ein Konfliktpotential auf, und die Mehrheit der Deutschen in dieser Region wollte am Ende ebenso „heim ins Reich” wie die Bewohner der Randgebiete Böhmens. Dass diesem Wunsch eines Tages auf schauerlich brutale Weise entsprochen werden sollte, ahnte damals niemand. Die Folgen nationalistischer Verblendung hatten nicht nur die Anhänger Henleins und Hitlers zu tragen, sondern auch die politisch Indifferenten, ja selbst die erklärten Gegner der Nationalsozialisten. Das eisige „N?mci ven!” - Deutsche raus! galt für alle.

 

Zusammen mit meinem Vater, der mich nach meiner Heimkehr aus dem Krieg dank seiner Reputation als Antifaschist nach einigen Wochen aus einem tschechischen Lager für ehemalige Wehrmachtssoldaten herausholen konnte, verließ ich im Herbst 1946 die Heimat. Meine Mutter, Schwester Margit und unsere Großmutter sollten mit dem nächsten Transport folgen, aber dazu kam es nicht. Ob neue Bestimmungen die Ursache waren oder ob die Frauen den Transport absichtlich versäumten, habe ich niemals zuverlässig erfahren. Die Zurückgebliebenen mussten den Wohnort später ebenfalls verlassen und wurden nach Altenbuch-Döbernei verfrachtet. Von dort aus übersiedelten sie nach Arnau an der Elbe, dem heutigen Hostinné nad labem. Dort erwartet mich jetzt die Familie meiner Schwester. Dort ist auch das Grab unserer Mutter.

 

Als der Aussiedlungstransport an unserem Heimatort Adamstal vorbei rollte, hatte mir meine Schwester verabredungsgemäß noch einmal zugewinkt. Klein und einsam stand sie da am Waldrand im Halbdunkel zwischen mächtigen Fichten, ein flatterndes Taschentuch in der erhobenen Hand. Als Inbegriff von Verlassenheit und Trauer begleitet mich dieses Bild bis auf den heutigen Tag. Sechzehn war meine Schwester damals. Nun ist sie seit langem mit einem tschechischen Arbeiter verheiratet und Großmutter von vier Enkelkindern. Gesundheitliche Beschwerden machen ihr - wie sie schrieb - zunehmend zu schaffen und ihr Wunsch nach einem Wiedersehen wurde in jüngster Zeit immer drängender. So reifte nach der Wende im Osten, beflügelt von den Nachrichten über die Veränderungen in der Tschechoslowakei und die Erleichterungen für Besucher aus dem Westen, allmählich der Gedanke an diese Reise heran.

 

Von Deutsch-Gabel aus wollte ich Mladá Boleslav (Jungbunzlau) ansteuern, aber eine auf der Landkarte noch nicht verzeichnete Straße brachte mich rasch auf direktem Weg nach Jitschin und Nová Paka (Neupaka). Die Berichte über schlimme Umweltzerstörungen im Kopf fahre ich durch eine unversehrt scheinende Landschaft. Mischwald zu beiden Seiten wechselt mit dem Grün endlos scheinender Felder. Kühe grasen auf löwenzahnübersäten Wiesen. Nirgendwo ein Stück unbebaute Erde. In Trautenau (Trutnov), wo ich zur Schule gegangen bin und wo jetzt ein Zimmer im Hotel „Horník” auf mich wartet, ist das trostlose Ergebnis von Vertreibung und „real existierendem Sozialismus” wieder allgegenwärtig. Nur der Marktplatz mit dem Rübezahlbrunnen wirkt einladend und freundlich. Die Fassaden der alten Gebäude mit den Laubengängen sind renoviert und frisch gestrichen. Vereinzelt haben neue Geschäfte eröffnet, deren hell erleuchtete Schaufenster das Stadtbild beleben. In den Nebenstraßen allerdings reiht sich ein baufälliges Gebäude an das andere.

 

Die privaten Geldhändler, die noch vor kurzem - wie mir erzählt wurde - an dunklen Ecken ihre krummen Geschäfte machten, sind nahezu verschwunden. Inzwischen bekommt nämlich der Besucher aus dem Westen in den offiziellen Wechselstuben ebenfalls etwa 17 Kronen für eine Mark, so dass sich die illegale Tauscherei nicht mehr lohnt. Wie lange der Staat diesen Wechselkurs durchhhalten kann, steht dahin. Für Besitzer harter Devisen ist der Aufenthalt in der Tschechoslowakei jedenfalls spottbillig. Ein Mittagessen samt Getränken kostete im Mai 1991 umgerechnet knapp sechs Mark; ein Doppelzimmer mit Frühstück 68 Mark.

 

Da kommt leicht Übermut auf, wie sich am Pfingstwochenende während einer Invasion aus dem benachbarten Sachsen auf das peinlichste erwies. Im Handumdrehen verwandelten die Besucher aus der ehemaligen DDR das Restaurant des Hotels in eine Bierschwemme, und von der Rezeption her dröhnte ihr ungeduldiges „Zack-Zack, nun beeilen Sie sich mal” durch die Hotelhalle. Das tschechische Personal ließ den Ansturm geduldig über sich ergehen, nur hier und da verriet ein Blick Unbehagen und Frust. So müssen sich in den fünfziger Jahren die Italiener gefühlt haben, als westdeutsche Urlauber in Rimini oder auf Capri ihrem D-Mark-Größenwahn freien Lauf ließen. Ohne dicke Brieftasche mussten jene Deutschen auskommen, die nach Abschluss der großen Aussiedlungsaktionen im Spätherbst des Jahres 1947 in der Tschechoslowakei zurückblieben. Ihre Zahl belief sich nach amtlichen Angaben auf rund 62.000, unter ihnen auch meine Schwester. Am Stil ihrer Briefe konnte ich über die Jahre hinweg einen Prozess der Anpassung an die vorherrschenden Lebens- und Denkgewohnheiten erkennen. Sie schrieb zwar noch deutsch, aber beim Satzbau dachte sie schon unverkennbar tschechisch.

 

Nun stehe ich ihr im tristen Treppenflur eines Wohnsilos aus Betonfertigteilen gegenüber. Eine seltsame Scheu hält mich davon ab, sie zu umarmen. Meine Schwester empfindet den Augenblick offenbar ähnlich. Sie drückt mir fest die Hand. Ich spüre, dass die Innenfläche ihrer Hand hart ist, wie gegerbt von schwerer Arbeit. Ein Gefühl der Wärme und Zuneigung durchströmt mich. In der kleinen Wohnküche reden wir über Dinge des Alltags, als gäbe es nichts Wichtigeres zu besprechen. Meine Schwester erzählt von ihren Krankheiten und der unzureichenden Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln. In den Geschäften gebe es zwar schon allerhand zu kaufen, aber die Preise seien ja so gestiegen. Ihr Mann lächelt vor sich hin. Mein Blick fällt auf einen modernen Herd, einen großen Kühlschrank und eine elektrische Waschmaschine. Nebenan stehen übereinander zwei Fernsehgeräte. Eins davon liefert via Satellit das Programm eines deutschen Privatsenders ins Haus - kein Wunder, dass der Schwager so genau über die Fußball-Bundesliga Bescheid weiß. Erst jetzt erfahre ich, dass er Deutsch als Zwangsarbeiter während des Krieges in der Nähe von München gelernt hat. Fortsetzung folgt.

Foto:

1.Schwester Margit, vorn neben ihrTochter Vera, dahinter deren gleichnamige Tochter, vorn in dem rosafarbenen Pullover die Tochter der Schwester, Eva. Hinter ihr links der Mann von Vera, Jardo, zwischen Eva und dem VErfasser, ganz rechts,  der Mann von Margit, also Schwager Franz.

2. Hochzeit der Schwester Margit mit Schwager Franz

 

 

 

(Ein Hörfunk-Essay für Radio Bremen, gesendet am 4. November 1991)