Das Riesengebirge - verstaubte Kulisse Heimat. Ein Wiedersehen nach 40 Jahren, Teil 4

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Aus München kommend ist in Trautenau ein Freund aus frühen Kindheitstagen zu mir gestoßen. Wir wollen auf die Schneekoppe, aber die „ale Kaake” - wie sie mundartlich genannt wird - hat sich nach einem Kälteeinbruch ganz in Weiß gehüllt..Dafür sind wir nicht ausgerüstet.

 

Von Spindleruv Mlyn aus, dem früheren Spindlermühle, blicken wir zum Ziegenrücken hinauf, dessen bewaldeter Schopf so seltsam schütter wirkt. Im Fernglas erkennen wir, dass tausende Bäume umweltgeschädigt sind. Wir wandern in Richtung Mädelstegbaude ein Stück an der Elbe entlang. Quellfrisch und klar sprudelt uns ihr Wasser entgegen. Kein vierzig Kilometer von hier, kurz hinter Dvur Králové (Königinhof), ist sie nicht wiederzuerkennen. Industrieabfälle haben das Wasser inzwischen in eine brackige dunkle Brühe verwandelt. Mit dem Schutz der natürlichen Umwelt hatten auch in der Tschechoslowakei Politiker und Industriemanager all die Jahre wenig im Sinn. Das liebliche Tal der Aupa, eines Nebenflusses der Elbe unterhalb von Parschnitz, war ihnen gerade recht als Standort eines mit Steinkohle betriebenen Fernwärmekraftwerkes, dessen Schadstoffe das ganze Gebiet bis hinauf ins Gebirge beeinträchtigen. Dicke Rohrleitungen, brutal hineingeknallt in Wiesen und Auen, durchziehen wie die Arme einer monströsen Krake die Landschaft.

 

In wenigen Minuten sind wir mit dem Auto in Bohuslavice nad Úpou, dem ehemaligen Bausnitz an der Aupa. Hier sind wir als Kinder zur Schule gegangen. Die Dorfschmiede am Ortseingang und die 400 Jahre alte Riesenlinde, die daneben stand, sind einer Straßenbegradigung zum Opfer gefallen. Das Schulgebäude steht noch. Es wird von Vietnamesen bewohnt, die vor dem Fremdenhass aus der ehemaligen DDR hierher geflüchtet sein sollen. Zwei von ihnen grüßen uns artig auf Tschechisch, als wir den schmalen Weg zur Haltestelle der Bahnlinie Trutnov - Upice (Eipel) hinaufsteigen. Von hier oben bietet der Ort noch immer das vertraute Bild. Jedes Fleckchen ist mit Erinnerungen verknüpft, an Lausbubenstreiche oder nächtliche Streifzüge um das Haus einer angebeteten Schönen. Würden wir jetzt den Geleisen durch den Eisenbahntunnel folgen , wie wir das früher verbotener Weise oft getan haben, wären wir rasch auf der anderen Seite des Berges, hinter dem Adamov liegt, das ehemalige Adamstal. Aber wir benutzen die Straße, die sich entlang der Aupa in einer weiten Schleife um den Berg windet. Unvermittelt liegt dann der aus wenigen Häusern bestehende Ort vor uns, in dem wir unsere Kindheit verbrachten.

 

Für keinen, der einst dort lebte, war das eine Idylle. Während der Weltwirtschaftskrise und der damit einher gehenden Massenarbeitslosigkeit herrschte hier Anfang der 1930er Jahre bitterste Armut. Adamstal verdankt seine Entstehung dem Textilfabrikanten Etrich, der die Wasserkraft der Aupa für eine Flachsgarnspinnerei zu nutzen verstand und direkt neben der Fabrik eine Siedlung für die benötigten Arbeiter bauen ließ. Auf den ersten Blick scheint alles unverändert zu sein. Am Ortseingang steht noch das Gebäude, das vormals ein so genanntes Kolonialwarengeschäft beherbergte. Waren aus südlichen Ländern gab es hier allerdings nicht zu kaufen, dafür Brot und Bratheringe, Mehl, Schulhefte, Schnürsenkel und frisch gemahlener Mohn, Zwirn und Nähnadeln, und, nicht zu vergessen, einmal in der Woche Pferdewürstchen für 50 Heller das Stück. Der kleine Bauernhof neben der Straße ist auch noch da, aber ausgerechnet das Haus, in dem wir gewohnt haben, ist verschwunden. Es musste einer Pumpstation für das Fernwärmenetz weichen.

 

Unser Missbehagen angesichts des allzu augenfälligen Fortschritts dürfte von den neuen Bewohnern Adamovs kaum geteilt werden. Niemand braucht jetzt im Sommer nach Brennholz für den Winter zu suchen, wie wir das noch tun mussten, und niemand muss Wasser in schweren Eimern vom Brunnen ins Haus zu schleppen, weil es längst eine Wasserleitung gibt. Den Plumpsklos im Holzschuppen, in denen es während der kalten Jahreszeit recht ungemütlich war, weint sicher gleichfalls niemand eine Träne nach.

Ja, ja, ganz so toll, wie manche meinen, war das hier früher wirklich nicht, weder vor dem „Anschluss” des Sudetenlandes an Nazideutschland noch hinterher, als die „Wir wollen heim ins Reich” - Rufe verklungen und stattdessen Klagen um gefallene Väter und Söhne zu hören waren. Statt des Briefträgers verteilte der Ortsgruppenleiter der NSDAP in seiner gelben Parteiuniform die Todesnachrichten und versuchte die Menschen mit Durchhalteparolen bei der Stange zu halten. Nach Kriegsende wurde er angeblich von Tschechen erschlagen.

 

Was empfinde ich am Ende der Reise? Wehmut erfüllt mich, die von der Rückschau auf das eigene Leben stärker bestimmt ist, als von den Äußerlichkeiten des Wiedersehens mit der alten Heimat. Ihr Bild wirkt auf mich wie die verstaubte Kulisse eines abgesetzten Theaterstücks. Wie hat das Herz mir geblutet, als ich am 20. September 1946 in mein Tagebuch schrieb: „Nun ist es so weit. Auch ich muss gehen. Heute war ich noch einmal draußen im Wald und oben am Berg, um Abschied zu nehmen. Nun sitze ich wieder daheim und schreibe. Wie oft habe ich schon zu diesem Fenster hinaus gesehen. In mir ist ein so großer Schmerz, dass ich ihn fast körperlich spüre. Nur noch zwei Tage sind mir geblieben. Nur noch 48 Stunden bin ich daheim zwischen meinen Bergen, an denen jetzt langsam die Schatten der Nacht emporsteigen. Nur noch 48 Stunden werde ich die alte Uhr ticken hören, nur noch zweimal werde ich den Tag hier kommen und gehen sehen - dann werde i c h gehen.”

 

Jetzt bin ich wiedergekommen - und nichts drängt mich zum Bleiben. Wenn ich Bilanz ziehe, sehe ich keine offenen Rechnungen. Die Sudetendeutschen mussten ihre Heimat verlassen, konnten später aber im Westen die Früchte wirtschaftlichen Wohlstands genießen - die Tschechen machten sich den Besitz der Vertriebenen zu eigen, mussten später aber das Elend einer staatlichen Planwirtschaft erdulden. Wären die Sudetendeutschen geblieben, wo sie waren, hätte Europa heute wahrscheinlich ein zusätzliches Minderheitenproblem. Wenn jetzt ein neuer Anlauf unternommen wird, das Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland dauerhaft zu regeln, sollte sich die Landsmannschaft zurückhalten.

 

Die Tschechen verhalten sich gegenüber deutschen Besuchern freundlich und zuvorkommend, aber ihre Gefühle sind zwiespältig. Sie bewundern deutschen Fleiß und deutsche Tüchtigkeit - aber die alte Furcht vor dem furor teutonicus lässt sie nicht los. Angesichts dieser ambivalenten Stimmungslage sollte den Männern um Václav Havel nicht zu viel zugemutet werden. Dass dem deutschen Historiker zu den Bedenken gegen ein militärisches Engagement der Bundesrepublik außerhalb des Natogebietes nichts Besseres einfällt, als die Frage „Was ist, wenn Václav Havel 1993 gegen einen faschistischen Putsch in Prag uns zu Hilfe ruft?” zeugt nicht gerade von politischer Klugheit. Deutsche Panzer in Prag - das ist sicher das Letzte, worauf die Tschechen warten, nachdem sie die sowjetischen gerade losgeworden sind.

 

Ich stehe am Fenster des Hotels „Horník”, dessen welker Charme uns in den vergangenen Tagen so vertraut geworden ist. Vom vierten Stockwerk aus geht der Blick hinüber zu den bewaldeten Höhen des Ziegengesteins. Dort oben haben wir uns als Schüler oft herumgetrieben und Pläne geschmiedet. Dass wir eines Tages als fremde Besucher hierher zurückkehren würden, hat keiner geahnt.

 

Foto:

1. Marktplatz von Trutnov (Trautenau),  ringsherum die für die Gegend typischen Laubengänge

2. Kurt Nelhiebel mit Freund Oswald 1991 während eines Ausflugs ins Riesengebirge, dort wo die Aupa (später Nebenfluss der  Elbe) noch ein Rinnsal ist

 

 

(Ein Hörfunk-Essay für Radio Bremen, gesendet am 4. November 1991)