Das Riesengebirge - verstaubte Kulisse Heimat. Ein Wiedersehen nach 40 Jahren, Teil 3

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Etwas zäh plätschert die Unterhaltung dahin, als unvermittelt die Tür aufgeht und V?ra, eine der beiden Töchter meiner Schwester, mit ihrem elfjährigen Sohn vor uns steht. Sie fällt mir um den Hals und der Kleine drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ein Besuch bei den jungen Leuten wird verabredet.

 

Nein, nein, keine Ausreden, das muss sein, am Wochenende kommen alle zusammen.” In der Nähe von Arnau haben sie ein geräumiges Haus gebaut, voller Geweihe und mit Wildschweinfellen an den Wänden. V?ras Mann geht auf die Jagd. Voller Stolz zeigt er mir seine beiden Gewehre. Im Winter, wenn es mit der Arbeit als Maurer nicht weit her ist, schlachtet er in der Umgebung Schweine von Bekannten. An die 20 Stück kämen da manchmal zusammen. Es fehle ihnen an nichts, wird mir versichert. Aus Jungbunzlau ist Eva, die andere Tochter meiner Schwester, mit dem Auto angereist. Sie will mir unbedingt ihre Datscha zeigen, und nach Prag soll ich mit ihr fahren, da sei es sehr schön. Vielleicht das nächste Mal.

 

Selbstbewusst und zielstrebig - wie bei uns - geht diese Generation ihren Weg, unbeschwert vom Nachhall des Krieges. Für mich jedoch ist die Stadt, in der meine Schwester jetzt lebt, mit einem traumatischen Erlebnis verbunden. Auf dem Heimweg aus Krieg und Gefangenschaft wäre ich in Arnau beinahe erschossen worden, wenn nicht ein Brief meines Vaters mit kritischen Äußerungen über die Sinnlosigkeit des Krieges mir im letzten Moment das Leben gerettet hätte. Jetzt stehe ich an derselben Stelle und frage mich, was aus dem Mann wohl geworden sein mag, der sich damals von dem Brief meines Vater erweichen ließ. Ich würde mich gern bei ihm bedanken. In jenen Schreckenstagen unmittelbar nach Kriegsende gab es nur wenige Tschechen, die einem Deutschen auf diese Weise beistanden. Mehr als 200 000 Menschen mussten angeblich im Verlauf eines blutigen Rachefeldzuges für Hitlers Verbrechen mit dem Leben büßen.

 

Ungeachtet aller Bekenntnisse zur Versöhnung bleibt das Verhältnis zwischen den Sudetendeutschen und den Tschechen emotional belastet. Auch Václav Havels Entschuldigung gegenüber dem deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom März 1990 wird daran nicht viel ändern. Die Führung der Sudetendeutschen Landsmannschaft hat längst weiter gehende Forderungen angemeldet. Sie verlangt die Rückgabe enteigneten deutschen Besitzes und das Recht der Vertriebenen auf Rückkehr. Mit welchen Ängsten viele Tschechen leben, verdeutlicht Havels Versicherung gegenüber den eigenen Landsleuten: „Wir gedenken keinesfalls, den Deutschen ein Stück unseres Landes wiederzugeben.”

 

In der Tat wird niemand das Rad der Geschichte zurückdrehen können. Zwar haben die politischen Umwälzungen vom November 1989 vieles verändert, aber nichts wird wieder so werden, wie es war. Die meisten Vertriebenen sahen die Lage schon immer ganz realistisch. Bei einer Emnid-Umfrage im Sommer 1985 erklärten sich nur 48 Prozent der befragten Sudetendeutschen bereit, in die alte Heimat zurückzukehren, und selbst das nur unter der Voraussetzung, dass dort die gleichen Lebensbedingungen herrschen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Mein Heimweh war nach der Aussiedlung so unerträglich, dass ich im Juni 1947 illegal in die alte Heimat zurückkehren wollte. Erst an der Grenze bei Furth im Walde wurde mir die Aussichtslosigkeit und die Nutzlosigkeit meines Vorhabens bewusst und ich kehrte wieder zurück in die fremde neue Heimat.

 

Mangelnde Bindung an die Welt meiner Kindheit war es also nicht, die mich auf Distanz hielt zu den Aktivitäten der Landsmannschaft. Ich habe meine Empfindungen aus der Sorge heraus verdrängt, die Liebe zur alten Heimat und mein Interesse an allem, was mit ihr zusammenhängt, könnte Wasser auf die Mühlen der ewig nörgelnden Vertriebenenfunktionäre leiten, die ständig nur Salz in alte Wunden streuten und den Bemühungen um ein gutnachbarliches Verhältnis im Wege standen. Für das Wiedersehen mit der alten Heimat hatte ich mir Distanz auferlegt. Nirgendwo gehen so viele Jahre spurlos vorbei, sagte ich mir immer wieder. Dann zucke ich doch zurück. Heruntergekommen und muffig dämmern ehemals betriebsame Orte mit Flachsgarn- und Jutespinnereien wie Ober- Altstadt ( Horní Staré Mesto), Jungbuch (Mladé Buky) und Parschnitz (Po?i?i) vor sich hin. Nur hier und da ein gepflegtes Haus, das die Trostlosigkeit nicht aufhellt, sondern eher noch unterstreicht.

 

Wie halten die Menschen das Leben hier aus, frage ich mich. Nehmen sie das traurige Bild um sie herum gar nicht mehr wahr, weil ihre Seele einen Abwehrmechanismus gegen die optische Bedrückung entwickelt hat? Sind alle in dem fatalistischen Gedanken vereint, „hundert Jahre vor dem Affen” zu leben, - wie die Frau in dem Andenkenladen vor dem zerbröckelnden Barockschloss in Kukus (Kuks) sich ausdrückte? Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesem sarkastischen Aphorismus und der euphemistischen Versicherung der Tochter meiner Schwester, ihrer Familie fehle es an nichts.

Jedenfalls setzen die Menschen ihre ganze Hoffnung auf Václav Havel. Er kennt die Lage in den ehemals deutsch besiedelten Randgebieten der Tschechoslowakei aus eigenem Erleben. Hierhin zog er sich zurück, als die Behörden ihm Anfang der siebziger Jahre ein Schreibverbot auferlegten, und verdingte sich als Hilfsarbeiter in einer Trautenauer Brauerei.

 

Seit der mit seinem Namen verbundenen Abkehr von Dirigismus und Planwirtschaft regt sich allerorten wieder private Initiative. Auf den Zufahrtsstraßen zum Riesengebirge werben Schilder mit der deutschen Aufschrift „Zimmer frei” um Übernachtungsgäste, und ein Restaurationsbetrieb verspricht rührend unbeholfen „Warmes Essen ganzes Tag”.Fortsetzung folgt.

 

(Ein Hörfunk-Essay für Radio Bremen, gesendet am 4. November 1991)