Vor 100 Jahren setzte der Genozid an den Armeniern ein – und dies nicht ohne deutsche Beteiligung!, Teil 1

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Es scheint, als habe sich Adolf Hitlers am 22. August 1939 vor ranghohen Vertretern der Wehrmacht am Obersalzberg gestellte rhetorische Frage, wer denn heute noch vom Völkermord an den Armeniern spräche, den man im Nachhinein als Blaupause für Hitlers eigenes Engagement in jener Branche zu deuten vermochte, auf eine geradezu paradoxe Weise erfüllt:

 

Zwar spricht man in der Tat von diesem Völkermord, aber nur wenige tun dies mit vergleichbarer Deutlichkeit wie Papst Franziskus – nicht zuletzt das Verhalten und die Wortwahl der deutschen Bundesregierung wie der US-Regierung sind durch eine beschämende Zurückhaltung in dieser Angelegenheit charakterisiert, um den Handelspartner Türkei nicht zu verstimmen.

 

Hitler, so nimmt man an, erfuhr Näheres über den Genozid der Jahre 1915/1916 durch Max Erwin von Scheubner-Richter (1884 – 1923), der damals als deutscher Vizekonsul in Erzerum Zeuge der Verbrechen wurde und vielen Armeniern helfen konnte, indes in Berlin und Konstantinopel vergeblich intervenierte. Der Nachwelt blieb Scheubner-Richter leider nur als einer der 16 beim Hitlerputsch ums Leben gekommenen Nationalsozialisten und somit einer der Widmungsträger des ersten Bandes von „Mein Kampf“ in Erinnerung. Ernst Nolte thematisierte sein bizarres Schicksal in seinem vielfach mißverstandenen Aufsatz „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, der zum Auslöser des sogenannten Historikerstreits in den 1980er Jahren wurde.

 

Die Türkei bestreitet nach wie vor die in den Jahren 1915/16 erfolgte Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern, in türkischen Schulbüchern, wenn überhaupt darauf angespielt wird, werden die Zahlen drastisch nach unten korrigiert und als Ursache der hohen Sterbensraten diffuse „widrige Umstände“ angegeben.

 

Angesichts dieser Tatsachen mußte es nur konsequent erscheinen, daß der türkische Regierungsschef Erdogan im Jahre 2011 Mehmet Aksoys erst 2006 zur Erinnerung an den Genozid geschaffenes „Denkmal der Menschlichkeit“ demonstrativ abreißen ließ, und daß immer noch Journalisten, Historiker und Literaten, die die damaligen Verbrechen des türkischen Staates thematisieren, in der heutigen Türkei juristisch belangt (wie die Literaturnobelpreisträger Yasar Kemal und Orhan Pamuk) oder gar ermordet (wie der Journalist Hrant Dink) werden.

 

Das unter der Schirmherrschaft der Marburger Philipps-Universität operierende ONLINE-Magazin literaturkritik.de widmet dem bis heute immer noch als konkreter Gegenstand aktueller politischer Debatten fungierenden Völkermord an den Armeniern einen Schwerpunkt in seiner Aprilausgabe 2015, welcher umfassend über die historische und literarische Aufarbeitung der Geschehnisse zu informieren sucht.

 

In seinem Editorial zieht Herausgeber Jan Süselbeck deutliche Parallelen zu aktuellen Konflikten im nordafrikanischen sowie vorder- und mittelasiatischen Raum und betont die Notwendigkeit, dem vielfach zu konstatierenden erinnerungspolitischen Taktieren und dem daraus resultierenden institutionalisierten Vergessen mit Aufklärung zu begegnen.

 

Norbert Mecklenburg bespricht Rolf Hosfelds ´gleichermassen knappe wie inhaltsreiche Studie „Tod in der Wüste“ und gibt überdies einen Überblick über die literarischen Gestaltungen des „Aghet“, der „Katastrophe“ – von Armin T. Wegner und Annemarie Schwarzenbach über Hagop Oshagan, Siamanto, Gurgen Mahari und Franz Werfel bis hin zu Edgar Hilsenrath, Zafer Şenocak und Kirkor Ceyhan.

 

Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ und Kirkor Ceyhans „Ein Klopfen an der Tür“ sind überdies zwei Einzelbesprechungen gewidmet – ersteren Roman bespricht Oliver Kohns, letzteren Songül Kaya-Karadag.

 

Gerd Bedszent bespricht Corry Guttstadts Anthologie weiterer literarischer Aufarbeitungen des Genozids, „Wege ohne Heimkehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen.“, und Wolfgang Gust stellt Jürgen Gottschlichs Buch „Beihilfe zum Völkermord“ vor, welches die deutsche Beteiligung an der damaligen Katastrophe untersucht.

 

 

Die Links zu den einzelnen Artikeln:

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20498&ausgabe=201504

Ein kaum bekannter Völkermord

Warum die April-Ausgabe von literaturkritik.de über den Genozid an den Armeniern berichtet, der vor 100 Jahren in der Türkei begangen wurde

Von Jan Süselbeck

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20398&ausgabe=201504

Zeugnis, Empathie, Trauer

Kritische Notizen zur Literatur über den türkischen Genozid an den Armeniern

Von Norbert Mecklenburg

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20517&ausgabe=201504

Tragödie der Modernisierung

Zu Franz Werfels Interpretation des Genozids in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“

Von Oliver Kohns

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20508&ausgabe=201504

Eine Dolchstoßlegende für den Genozid

Jürgen Gottschlichs Buch „Beihilfe zum Völkermord“ handelt von der Rolle der deutschen Spitzenmilitärs beim Massenmord an den Armeniern

Von Wolfgang Gust

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20386&ausgabe=201504

Die Eskalation zum türkischen Völkermord

Rolf Hosfelds neues Buch „Tod in der Wüste“

Von Norbert Mecklenburg

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20487&ausgabe=201504

Der verleugnete Völkermord

Corry Guttstadt hat eine Anthologie mit erstmals übersetzten literarischen Texten über den Genozid an den Armeniern vorgelegt

Von Gerd Bedszent

 

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20490&ausgabe=201504

Die Überlebenskunst der Armenier

Über Kirkor Ceyhans dokumentarischen Roman „Ein Klopfen an der Tür“

Von Songül Kaya-Karadag

 

Nur wer den Mut hat, sich der eigenen Schuld zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, kann einem anderen gegenübertreten. Nur durch gemeinsames Aufarbeiten und Erinnern lassen sich die Konflikte von einst dauerhaft überwinden und Grundlagen für Frieden und Verständigung schaffen. Nur so kann eine böse Vergangenheit, die lange Zeit nicht vergehen wollte und wie ein gespenstischer Alpdruck die Gegenwart okkupierte, endlich und endgültig vergehen – gleichwohl aber, damit sie auch tatsächlich nicht wiederkehre, muß sie in Erinnerung bleiben!

 

 

Foto:

 

Das Mahnmal zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern im Nelson-Mandela-Park in Bremen!