Vor 100 Jahren setzte der Genozid an den Armeniern ein – und dies nicht ohne deutsche Beteiligung!, Teil 2

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Seit ich denken kann, ist die Tatsache des Völkermords an den Armeniern von 1915 bis 1918, politisch nicht von den Türken allein geleugnet worden und gleichzeitig von den Schriftstellern wahrheitsgemäß in Romanen beschrieben worden. Nach 100 Jahren ist es ein Unding, daß die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches sich ihrer Verantwortung zur Wahrheit immer noch entzieht, statt ihrer Bevölkerung möglich zu machen, Trauerarbeit zu leisten.

 

Denn so lange dieser unfaßbare Völkermord als nationales Verbrechen in der Türkei verschwiegen wird, gärt das Thema im türkischen Volk, stößt auf, führt zu Erbrechen und wirkt wie ein geheimes, nicht heilbares Geschwür. Die mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg verbündeten Deutschen haben den Völkermord nicht nur geschehen lassen, sondern ihn sogar befördert. Die Akten der Reichsregierung beweisen dies. Im Deutschland von heute, so scheint es mir, ist der Abscheu vor dem armenischen Völkermord durch die Türken genauso virulent wie die Verachtung, welche Rolle das Deutsche Reich dabei gespielt hat.

 

Aber die deutsche Regierung spricht eine deutlichere Sprache nur nach innen. Nach außen, also in der Weltöffentlichkeit und erst recht gegenüber der Türkei selbst, zieht sie sich auf verschwiemelte Positionen zurück und vermeidet strikt das Wort Völkermord wie auch Genozid. Wie die Türkei - und damit meinen wir immer die politisch Verantwortlichen - auf diejenigen reagiert, die das analoge Wort für die staatlich initiierten Verbrechen an rund 1, 5 Millionen Armeniern nutzen, kann man in diesen Tagen wieder einmal an der Wut sehen, mit der die türkische Regierung auf die Worte von Papst Franziskus am Ostersonntag reagiert.

 

Dieser hatte zu den Vertreibungen und Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich gesagt, daß es sich um „den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ handele. Klare Worte und in Übereinstimmung mit allen historischen Forschungen. Was macht die Türkei? Sie leugnet noch immer, bestellt den Vatikan-Botschafter ein etc. Wie einfach wäre es, wenn eine UN-Resolution das für alle beschließe oder wenn bei einem der Spitzengipfel des Westens diese Industrienationen gemeinsam eine solche Sprache fänden. Dann nämlich liefen die Drohungen der Türkei, die immer wirtschaftlicher Natur sind, ins Leere.

 

Die Deutschen allerdings sind mehr noch als andere gefordert, auch auf höchster Ebene von türkischen Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Wie hilfreich wäre es gewesen, hätte die Welt, hätte Europa auf die ersten Judenverfolgungen im Deutschen Reich mit einem Aufschrei geantwortet. Daß sich die Türkei zu einer historischen Verantwortung auch nach 100 Jahren nicht bekennt, ist ein politisches Armutszeugnis.

 

Wir wollen den 100jährigen Gedenktag aber nicht politisch begleiten, sondern von denen schreiben, die über diesen Genozid geschrieben haben. Daß Franz Werfel DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH geschrieben hat, ist bekannt. Sein Roman war für uns als Jugendliche die erste und bis heute nachdrückliche Information über die Leidensgeschichte des armenischen Volkes.

 

Wenig ist bekannt über die Motivation zum und die Entstehungsgeschichte des Romans. Werfel war im Jahr 1929 mit Alma Mahler unterwegs. Ob es die vorgezogene Hochzeitsreise war oder die eigentliche wissen wir nicht, denn 1929 haben die beiden auch geheiratet. Auf jeden Fall waren sie zusammen in Kairo, von wo aus sie nach Jerusalem fuhren, von dort nach Damaskus, wo die Moscheen der Stadt nicht nur groß und bedeutend sind, sondern die beiden in der Umayyaden-Moschee auch den Schrein mit dem Kopf des Johannes des Täufers sahen. In Damaskus besuchten sie auch die größte Teppichweberei der Stadt. Die Kinderarbeit war nicht zu übersehen und auch nicht, daß diese Kinder halb verhungert aussahen.

 

Auf die Nachfrage hin, was denn mit diesen Kindern sei, antwortete der Fabrikbesitzer: „Ach diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und niemand kümmert sich darum. Leisten können sie ja nicht das geringste, sie sind zu schwach dazu.“

 

Beim Weiterfahren durch das libanesische Gebirge sahen Werfel und Mahler viele armenische Dörfer, die blitzsauber und mit vielen Blumen geschmückt einen ganz anderen Eindruck machten als die armseligen türkische Siedlungen. Franz Werfel war tiefbetroffen vom Unglück der Armenier, das er erst nach und nach in der vollen Tragweite erfuhr und umgehend – noch auf der Reise – zu einem Romanexposee verdichtete. Zu Hause informierte er sich umfassend über historische Details und bat sogar um die Protokolle aus dem Pariser Kriegsministerium über das grausame türkische Vorgehen, die der Gesandte Graf Clauzel ihm besorgte.

 

Geschrieben hat Franz Werfel seinen Roman erst später vom Juli 1932 bis März 1933. Im November 1932 unternahm er eine Vorlesungsreise nach Deutschland und arbeitete das fünfte Kapitel seines Fragments zum Vortrag aus. Nach dem Erscheinen wurden DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH im inzwischen nationalsozialistischen Deutschland verboten. Grundlage war der § 7 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes wegen „Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“ . Schon 1933 war Werfel aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen worden.

 

Bei den Armeniern, massenhaft im Exil auf der ganzen Welt lebend, löste der Roman Freude und Begeisterung aus. Als Franz Werfel im Jahr 1936 Amerika besuchte, wurde er in New York von den Armeniern gefeiert. In einer armenischen Kirche sagte ein Priester während einer Predigt: „Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben.“ (Alle Zitate aus den Aufzeichnungen von Alma Mahler-Werfel.

 

Seit Franz Werfels Roman, immerhin vor 86 Jahren begonnen, hat es viele künstlerischen Aufarbeitungen des armenischen Unglücks durch die türkischen Verfolger und Mörder

gegeben. Zwei Beispiele aus jüngster Zeit: Am 16. Oktober startete in den deutschen Kinos THE CUT, den der türkischstämmige Fatih Akin mit immenser Vorbereitung und als großes Leinwandepos in 138 Minuten drehte. Es geht in Mardin 1915 los. Die türkische Gendarmerie treibt alle armenischen Männer zusammen. Darunter ist der junge Schmied Nazaret Manoogian. Er überlebte alle Massaker. Lange weiß er nichts von seiner zurückgelassenen Familie, dann hört er, daß seine Zwillingstöchter den Völkermord ebenfalls überlebt haben. Er sucht sie. Überall. Er folgt ihren Spuren von Mesopotamien über Havanna bis nach North Dakota, wo er sie findet.

 

An einer Familie wird beispielhaft das Schicksal des ganzen Volkes nachempfunden, wobei die Szenen, die in den Wüstenteilen spielen, die Zufälligkeit und das Schicksalshafte, die Grausamkeiten und Sinnlosigkeit des mörderischen Geschehens

mit Gänsehauteffekten wiedergeben. Verblüfft sieht man dann, daß auch amerikanische Wüsten das Gefühl von Einsamkeit, wie die Gleichzeitigkeit von Weite und Enge vermitteln. Auf einen Kriminalroman, der gerade erschien, und in dem die Folgen des Massakers die entscheidende Rolle spielen, wollen wir im nächsten Teil eingehen. Fortsetzung folgt.