Serie: ZUM 8. MAI 1945: Kapitulation und Befreiung, Teil 2: Ein Brief gegen den Krieg rettete mir nach Kriegsende das Leben

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Heiß wie im Hochsommer brennt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Vor wenigen Stunden ist der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen und ich bin auf dem Weg zurück in meine Heimat auf der böhmischen Seite des Riesengebirges.

 

Am 1. Mai 1945, noch bevor Nazideutschland kapituliert hatte, war ich in Berlin als knapp 18Jähriger in sowjetische Gefangenschaft geraten, konnte aber nach drei Tagen in Trebbin während einer nächtlichen Rast fliehen. Fünf Tage und fünf Nächte versteckte ich mich im Wald, bis ich in der Nähe von Treuenbrietzen abermals Rotarmisten in die Hände fiel. Obwohl ich noch die Uniform der deutschen Wehrmacht trug, redeten sie lachend auf mich ein und gaben mir zu verstehen, dass das Deutsche Reich in der Nacht kapituliert hatte. Sie banden mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Arm und ließen mich weiterziehen. Im Laufe des Tages tauschte ich meine Uniformjacke gegen eine Windbluse, die ich in einem Haufen weggeworfener Kleidungsstücke gefunden hatte.

 

Jetzt wandere ich durch eine vom Frühling verzauberte Landschaft. Blühende Obstbäume so weit das Auge reicht. Über dem Asphalt flimmert die Hitze des Tages. Blütenblätter fliegen wie Schneeflocken durch die Luft, liegen für eine Weile auf der Fahrbahn, bis die jaulenden Reifen von Militärfahrzeugen sie zur Seite wehen auf die Reste ausgebrannter Lastwagen und die grauen Gesichter der Toten am Rande der Straße - grausige Erinnerung an das soeben zu Ende gegangene Morden. Als müsste ich mich bei diesem Anblick des eigenen Lebens vergewissern, greife ich an die linke Brusttasche, wo immer ein Packen Briefe meines Vaters steckte, in denen er den Wahnsinn des Krieges unverhohlen kritisierte. Lähmender Schreck durchfährt mich. Ich hatte die Briefe in der weggeworfenen Jacke vergessen. Im Laufschritte eile ich zurück und finde die Jacke tatsächlich wieder, aber sämtliche Taschen sind leer. Inzwischen hatte jemand die Jacke durchwühlt und alles ihm nützlich Scheinende mitgenommen.

 

Verzweifelt taste ich immer wieder den Stoff ab und spüre schließlich am unteren Rocksaum etwas zwischen den Fingern. Ich reiße das Futter auf und entdecke dort einen der Briefe, der durch ein Loch in der Tasche nach unten gerutscht war. Erleichtert nehme ich das zerknitterte Blatt Papier an mich. Hauptstraßen und größere Orte meide ich fortan. Ich besitze nichts, womit ich mich ausweisen könnte. Mein Soldbuch habe ich längst zerrissen und weggeworfen. Wenn mich sowjetische Soldaten kontrollieren, rede ich tschechisch auf sie ein und gebe mich als heimkehrender Zwangsarbeiter aus. Erzählungen entgegenkommender Landser über Gräueltaten der Tschechen gegenüber den Deutschen ignoriere ich. Ich habe ja ein gutes Gewissen.

 

Irgendwo an der sächsisch-tschechischen Grenze springen aus einem Gebüsch Männer mit umgehängten Gewehren. Ich halte sie für tschechische Partisanen. Wortlos ziehen sie mir Jacke und Hemd über den Kopf und beäugen meine Achselhöhlen. Suchen sie nach Ungeziefer, denke ich und sage leichthin: „Já nemám stěnice”, ich habe keine Wanzen. Dass sie vermutlich nach der bei SS-Leuten üblichen Blutgruppen-Tätowierung gesucht haben, wird mir erst später bewusst.

 

Je näher ich der engeren Heimat komme, desto unbeschwerter fühle ich mich. In Hohenelbe (Vrchlabi) nimmt mich die Familie eines Arbeitskollegen meines Vaters für ein paar Tage bei sich auf und versorgt meine wund gelaufenen Füße. Für den Rest des Weges bekomme ich ein paar klobige Gummistiefel, da meine Schuhe für die bandagierten Füße zu klein geworden sind. Bevor ich mich verabschiede, rufe ich noch meinen Vater in Trutnov (Trautenau) an und unterrichte ihn von meiner bevorstehenden Heimkehr.

 

Im Nachbarort Pelsdorf (Kunčice) hält gerade ein Personenzug. Kurz entschlossen steige ich ein. In Arnau (Hostinné) werde ich von zwei bewaffneten Zivilisten kontrolliert. „Němec?” fragen sie. Deutscher? Ich nicke. Sie sagen nur ein Wort: „Ven.” Raus aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig nehmen sie mich in die Mitte. Ich werde zu einem großen Gebäude in der Stadt gebracht. In dem langen dämmrigen Flur umringen uns Männer mit umgehängten Gewehren. An der Stirnwand sehe ich ein Plakat mit der Aufschrift „Pravda vitězý”, die Wahrheit siegt. Links und rechts viele Türen. Ich bin in einem Schulgebäude.

 

Stimmen schwirren durcheinander. „Wo habt ihr den aufgegabelt?“ „Gleich umlegen!” „Das ist meine Sache. Ich weiß, wie das geht. Ein Knall, basta, aus, erledigt.” Dabei schlägt er mit der flachen Hand an den Schaft seines Karabiners. Mir stockt der Atem. Die Männer denken, dass ich sie nicht verstehe. Aber ich verstehe jedes Wort. Es geht gar nicht darum, ob ich kurzerhand erschossen werde, sondern nur noch darum, wer es macht. Meine Beine werden schwer wie Blei und mein Herz schlägt wild gegen die Rippen. Während des Krieges bin ich dem Tod mehr als einmal nahe gewesen, aber ich habe mich zu keiner Sekunde am Ende meines Lebens gesehen. Und jetzt? Alles vorbei, alles umsonst? Die Auflehnung gegen das blinde Wüten des Schicksals schüttelt mich wie ein Krampf. Dann plötzlich der Wunsch: Könnte ich jetzt doch schlafen, nur noch schlafen- ich bin so müde.

 

Vom Eingang her nähert sich eine schlanke Gestalt in hellem Staubmantel. Die Männer treten zur Seite und salutieren. „Was ist mit dem?” Und zu mir gewendet: „Komm’ mit!” Ich folge ihm in ein Klassenzimmer. Ehe die Tür hinter uns ins Schloss fällt höre ich noch den Zuruf: „Keine langen Geschichten, Herr Kommandant.” Der Mann im hellen Staubmantel zeigt auf die erste Bankreihe. Ich setze mich. Er spannt einen Bogen Papier in die Schreibmaschine auf dem Pult, und fragt dann rasch nach Namen, Geburtsdatum, Geburtsort und Nationalität. Ich antwortete mechanisch und ein Automat in meinem Gehirn sagt mir: Es geht anscheinend doch nicht ohne Formalitäten. Als ich die Frage nach der Nationalität mit „deutsch” beantworte, stößt mein Gegenüber hervor: „Du Vaterlandsverräter, wie konntest du als tschechischer Staatsbürger in der Naziwehrmacht dienen?”

 

Ich verteidige mich, so gut es geht. Nach dem deutschen Einmarsch 1938 sei ich doch nicht mehr tschechischer...” Weiter komme ich nicht. Der Mann reißt den Bogen aus der Maschine, zerknüllt das Blatt und wirft es zu Boden. „Komm’ mit!” Auf dem Gang umringt uns wieder die Meute. Der Mann im hellen Staubmantel schiebt sie zur Seite und strebt dem Ausgang zu.

 

Wir überqueren die Straße. Der macht es jetzt selbst, schießt es mir durch den Kopf, oder doch nicht? Wir betreten eine Art Polizeiwache schräg gegenüber. Drei Männer in der dunkelblauen Uniform der alten tschechischen Polizei spielen Karten. Einer unterzieht mich auf Geheiß des Kommandanten einer Leibesvisitation. „Waffen?” fragt der Mann im hellen Staubmantel. Der Polizist verneint. Dann tastet mich der Kommandant selbst noch einmal ab und zieht mit spitzen Fingern den vergessenen Brief des Vaters aus meiner Brusttasche.

 

Über seine Stirn zuckt eine steile Falte. Ohne den Blick von mir zu wenden, macht er einige Schritte nach rückwärts. Dann faltet er den Brief auseinander und beginnt laut zu lesen. Der deutsche Text fällt ihm schwer. Gespannt blicke ich in sein Gesicht – es ist ein gut geschnittenes Gesicht mit einem Menjoubärtchen auf der Oberlippe. Jetzt kommt er an die Stelle, die ich rot angestrichen habe. „Die Entscheidung muss bald fallen, soll denn unsere Jugend völlig verbluten? Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?” Mit ernstem Gesicht tritt er schließlich dicht an mich heran und sagt in gebrochenem Deutsch: „Dieser Brief hat Dir das Leben gerettet.” Dann wendet er sich ab und befiehlt einem der Gendarmen, mir einen Passierschein für freies Geleit auszustellen. Als die Schreibmaschine zu klappern beginnt, verlässt der Mann im hellen Staubmantel grußlos den Raum.

 

Ich darf gehen. Auf der Straße löst sich die Anspannung und Tränen schießen mir in die Augen. Unbewusst greife ich an die Brusttasche, wo neben dem Passierschein der Brief meines Vaters knistert.

 

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Nach der Wende im Osten habe ich versucht, den Mann im hellen Staubmantel über die tschechische Botschaft in Bonn ausfindig zu machen. Ich wollte mich bei ihm bedanken. Meine Bitte wurde nach Prag weiter geleitet. Am 20. Januar 1991 schrieb mir die Botschaft: „Sie werden wohl Verständnis dafür haben, dass in Hostinné (Arnau) die Suche nach Ihrem Retter auf Schwierigkeiten stoßen kann.“ Dabei ist es geblieben.