Serie: ZUM 8. MAI 1945: Kapitulation und Befreiung, Teil 6: Vom deutschen Haß auf Juden und Kommunisten I

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - "Ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gellenden Straßen von Berlin gehe; wenn ich die Indolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme." ( Walther Rathenau ) [1]

 

Wie es nach der Kapitulation des „Großdeutschen Reiches“ um die Haltung der Deutschen gegenüber den jüdischen Opfern des Gewaltregimes der Nationalsozialisten im Westen des besetzten Landes bestellt war, offenbarte erstmals eine Umfrage, die der amerikanische Hochkommissar für Deutschland, John McCloy, 1951 bei deutschen Instituten in Auftrag gegeben hatte. 17 Prozent der Befragten meinten, die Juden hätten das geringste Anrecht auf Hilfe, 49 Prozent stellten sie auf eine Stufe mit dem Schicksal anderer Personengruppen. In erster Linie sollte den Kriegerwitwen und den Kriegswaisen geholfen werden. Als zweite Gruppe wurden die Bombengeschädigten genannt, als dritte die Vertriebenen, dann die Angehörigen der Teilnehmer am Attentat auf Hitler. An letzter Stelle wurden die Juden genannt. Nur zwei Prozent der Befragten billigten ihnen das größte Anrecht auf Hilfe zu.

 

Ein ähnliches Bild ergab 1952 eine Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie zur Haltung der Deutschen gegenüber Wiedergutmachungsleistungen an Israel. Nur elf Prozent waren uneingeschränkt dafür, 44 Prozent hielten sie für überflüssig, 21 Prozent wollten sich nicht dazu äußern.[2] Ungeachtet der wenig schmeichelhaften Zahlen rühmte eine angesehene deutsche Zeitung das Abkommen mit dem jüdischen Staat "als besonderes Beispiel dafür, wie sich ein Volk darum bemüht, ein in größtem Ausmaß begangenes Verbrechen zu sühnen."[3] Dabei wollte Konrad Adenauer Israel anfänglich mit zehn Millionen Mark abspeisen, die er einem Mittelsmann als "Geste der Wiedergutmachung" anbot. Die Israelis quittierten die Offerte mit eisigem Schweigen. Um sich den Rücken für die Aufstellung deutscher Streitkräfte frei zu halten, erhöhte Adenauer sein Angebot später auf 3,4 Milliarden Mark, das dann im Luxemburger Abkommen von 1952 festgeschrieben wurde. Zu entrichten war der Betrag in jährlichen Raten von 261 Millionen Mark; das entsprach knapp einem halben Prozent der Ausgaben des Bundeshaushalts von 1953.

 

Bei der Abstimmung im Bundestag am 18. März 1953 votierten nur 106 Abgeordnete der Regierungsparteien für das Wiedergutmachungsabkommen. 15 stimmten mit Nein und 68 enthielten sich der Stimme. Auch 18 Abgeordnete der Opposition wollten sich nicht festlegen, während 20 mit Nein stimmten. Gerettet wurde das Abkommen durch 133 Ja-Stimmen aus den Reihen der oppositionellen SPD. Insgesamt ein blamables Resultat - gemessen an dem Anspruch, mit dem die Bundesrepublik heute auftritt, blamabel aber auch gemessen an den Erwartungen, die der amerikanische Hochkommissar McCloy damals hegte. Für ihn war die Haltung Deutschlands gegenüber den Juden angesichts der ungeheuren Schuld, die das deutsche Volk als Ganzes ihnen gegenüber trage, die "Zentralfrage der inneren Reinigung, mit der diese steht und fällt."

 

Diese innere Reinigung hat niemals stattgefunden. Sie scheiterte an der Unlust einer überwiegenden Mehrheit der Deutschen, sich mit der Schande des Nationalsozialismus auseinander zu setzen, sie scheiterte - wie Alexander Mitscherlich formulierte - auch an der Unfähigkeit zu trauern. "Es gibt hier nicht das Bedürfnis, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen", bekannte 65 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft der pensionierte Garmisch-Partenkirchener Gymnasiallehrer Alois Schwarzmüller, der seit Jahren die NS-Vergangenheit seiner Heimat erforscht.[4]

 

Krank an der Seele, leidlich aufgerichtet durch das Ansuchen der Feinde von gestern, sich am Kampf gegen den Kommunismus zu beteiligen, machten sich die Deutschen an die Beseitigung der materiellen Trümmer, beeindruckt von den Verheißungen der freien Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard und der christlich-demokratischen Aura des ersten Nachkriegskanzlers Konrad Adenauer. Der wusste die andressierten Ängste und Aggressionen der Deutschen zu nutzen. Lange bevor George W. Bush die Welt mit der Lüge von irakischen Massenvernichtungswaffen hinters Licht führte, erschlich Adenauer sich mit der Lüge von einem bevorstehenden Angriff aus dem Osten die Zustimmung zur Aufstellung deutscher Streitkräfte. In einem Interview der "New York Times" vom 18. August 1950 behauptete er unter Berufung auf Militärexperten, die Russen organisierten ihre in der sowjetischen besetzten Zone Deutschlands stationierten starken militärischen Kräfte in einer Art und Weise, "wie das nur für Angriffszwecke der Fall" sei."[5]

 

Die Nazipropaganda vom jüdisch-bolschewistischen Feind im Osten noch im Hinterkopf, hielten viele die Fortsetzung des Kampfes gegen den Kommunismus im Namen der Demokratie für gottgewollt. Niemand brauchte sich fortan seines Beifalls für die Naziparole "Macht Deutschland vom Marxismus frei!" mehr zu schämen. Dass ein wegen Auschwitzverbrechen verurteilter ehemaliger Direktor des IG-Farben-Konzerns für seine Verdienste beim Wiederaufbau mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt wurde, hielt niemand für anstößig. [6]

 

Berauscht von der Tüchtigkeit seiner Landsleute hielt der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß den Siegern von gestern entgegen, das deutsche Volk habe angesichts seiner wirtschaftlichen Leistungen ein Anrecht darauf, "von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen".[7] Helmut Kohl, damals noch Abgeordneter der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag, meinte den Initiator des Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, mit dem Satz belehren zu müssen, der zeitliche Abstand zum Dritten Reich sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus fällen zu können.[8] Später dann, als dieser Abstand auf 60 Jahre angewachsen war, hielten manche, wie etwa der 1955 geborene CDU-Politiker Friedrich Merz, das Nachdenken über die Vergangenheit schon wieder für überflüssig. Seine Generation, ließ Merz sich vernehmen, wolle sich für Auschwitz und die deutsche Vergangenheit nicht mehr in Haftung nehmen lassen.

 

Das empfand der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, als "Schlag ins Gesicht der Opfer und Überlebenden des Naziregimes". Mit dem Abstreifen der Verantwortung für die Lehren der Geschichte würden " rechtsradikale Parolen und Fremdenfeindlichkeit salonfähig" gemacht, gab Spiegel zu bedenken. Sein Stellvertreter Salomon Korn meinte, von nun an dürfe nicht länger übersehen werden, was sich hinter dem Verlangen des Bürgertums nach "Normalität" verberge. Niemand reagierte. Kein Aufschrei, kein Protest. Im kollektiven Bewusstsein dominierten längst andere Prioritäten, das Wirtschaftswachstum etwa und die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt. Und im Übrigen: hatten die anderen nicht auch "Dreck am Stecken"? Hartnäckig weigerten sich die Unionsparteien, die Einmaligkeit der Massenmorde in den deutschen Vernichtungslagern ohne Wenn und Aber anzuerkennen. Obwohl Theodor Heuss die Aufrechnung als das "Verfahren von moralisch Anspruchslosen"[9] gegeißelt hatte, erklärten sie sich mit der Bestrafung des Leugnens von Auschwitz erst einverstanden, als die Strafandrohung auch auf die Verbrechen einer "anderen Gewalt- und Willkürherrschaft" ausgedehnt wurde, und verhalfen so einer - wie der Vorsitzende des deutschen Richterbundes, Helmut Leonardy, sich ausdrückte - "widerlichen Aufrechnungsmentalität" zum Sieg.

 

 

 

Anmerkungen:

 

[1] Deutscher Außenminister, ermordet 1922 von Angehörigen der rechtsradikalen "Organisation Consul".

 

[2] Kurt R. Grossmann, Die Ehrenschuld, Ullstein Verlag, Frankfurt am Main, 1967, S.35.

 

[3] Süddeutsche Zeitung, 22. Juni 2009.

 

[4] Der Spiegel, Nr.3 / 18. 1. 2010, S. 134.

 

[5] Zitiert in: Hans Edgar Jahn; Für und gegen den Wehrbeitrag, Greven Verlag Köln, 1957, S. 21

 

[6] Conrad Taler, Asche auf vereisten Wegen, PapyRossa Verlag, Köln 2003, S. 144 f.

 

[7] Süddeutsche Zeitung, 14./15.3.2009.

 

[8] Conrad Taler, Asche auf vereisten Wegen, PapyRossa Verlag, Köln 2003, S. 139

 

[9] Reden deutscher Bundespräsidenten, Hanser Verlag, München-Wien, 1979, S. 20.

 

 

INFO:

 

(Der Aufsatz erschien 2010 gekürzt unter der Überschrift „Der braune Faden“ in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 4, S. 105.)